Tangstedt. Die Flüchtlinge fanden Jobs, die große Liebe – und adoptierten einen Welpen. Wieso einige in die Tangstedter Mühle zurückkehrten.
Nichts. Die Spuren vor dem Hotel sind verschwunden. Keine Roller und Räder, die an der Hauswand lehnen. Keine Kinder, die auf dem Parkplatz Seilspringen oder Fußball spielen. Keine Mütter, die Kinderwagen auf und ab schieben. Niemand, der an der Rezeption Hausaufgaben macht oder Nachrichten guckt. Niemand mehr, der auf Frieden wartet.
Auf den ersten Blick erinnert nichts an die 47 Ukrainer, die vor einem Jahr vor dem russischen Angriffskrieg aus ihrer Heimat nach Tangstedt geflohen sind. Es waren die ersten Flüchtlinge, die wenige Tage nach Ausbruch des Krieges in der Gemeinde ankamen – am 8. März um 7.48 Uhr.
Tangstedt: Das neue Leben der Flüchtlinge
Ein britischer Geschäftsmann, der selbst ursprünglich aus der Ukraine stammt und anonym blieben möchte, hatte damals auf eigene Kosten einen Bus gechartert und die Tangstedter Mühle für zwei Monaten angemietet, um dort seine Landsleute unterzubringen. Tangstedt war der erste Ort, den Alexander für seine Mission auswählte – weil er hier Freunde hatte. Weitere Orte folgten.
Insgesamt 16 mal ließ Alexander Menschen aus den am stärksten bombardierten Gebieten aus der Ukraine in Sicherheit bringen. Seit Beginn des Krieges waren es 900 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder.
Mehr als drei Millionen Euro hat er mit anderen Geschäftsleuten in die private Rettungsaktion investiert. Heute sagt er: „Ich würde es immer wieder tun.“ Er hat in den letzten 12 Monaten viele Nachrichten von Flüchtlingen bekommen. Die Menschen haben Spuren in seinem Leben hinterlassen.
Tangstedter Mühle: Hier hat vor einem Jahr alles angefangen
Auf Spurensuche: Es ist ein Dienstagmorgen, um kurz vor 9 Uhr, als Katrina Torba (35) aus der Tangstedter Mühle tritt und auf die kleinen Stufen zum Parkplatz vor dem Hotel hochsteigt. Es ist kalt draußen, aber wunderschön. Ein Hauch von Frühling liegt in der Luft.
Es ist das gleiche Wetter wie bei ihrer Ankunft vor einem Jahr. Genau hier, auf dem Parkplatz der Tangstedter Mühle, ist sie vor einem Jahr mit dem Bus angekommen. „Es fühlte sich fast unwirklich an, plötzlich hier zu sein.“, sagt Katrina heute und meint: Hier, in einer heilen Welt mit zwitschernden Vögeln und Krokussen im Blumenbeet. Ohne Bombeneinschläge und Zerstörung. Ohne Angst und Tod. Hier, im Frieden. Nur eine Busfahrt von der Heimat entfernt.
Katrina Torba hat in der Fremde ein neues Zuhause gefunden
„Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich angekommen bin“, sagt Katrina Torba. Sie sagt, dass sie sich damals schon manchmal gefragt hat, wie es wäre, hierzubleiben. Nicht nur für ein paar Wochen oder Monate, wie es die meisten anderen Flüchtlinge planten. Sondern für immer.
Katrina Torba hat in der Fremde ein neues Zuhause gefunden. „Alle Menschen grüßen sich und sind freundlich“, sagt Katrina. Sie kommt aus Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine. Eine Millionen Einwohner gibt es dort. Auf der Straße grüßt sie niemand. „Alles ist anonym“, sagt sie. Früher dachte sie, das sei normal.
Sie lernt Deutsch, verständigt sich im Moment aber noch lieber auf Englisch
In den letzten Monaten hat sie Deutsch gelernt. „Ein bisschen“, sagt sie und führt Zeigefinger und Daumen zu einem schmalen Spalt zusammen, um zu zeigen, wie wenig es ist. Sie sagt, dass sie Deutsch besser versteht, als sie es sprechen kann. Im Moment verständigt sie sich noch lieber auf Englisch.
Zwei Monate war das Hotel ihr Zufluchtsort, ihr Zuhause auf Zeit. Dann vermittelte das Amt Itzstedt den Flüchtlingen neue Unterkünfte in der Gemeinde. Katrina zog nach Wilstedt-Siedlung in ein Haus, mit ihren Kindern und sechs weiteren Flüchtlingen.
Heute arbeitet Katrina Torba in der Tangstedter Mühle
Doch sie blieb dort nicht lange. Sie kehrte dorthin zurück, wo alles begonnen hatte. In die Tangstedter Mühle. Tim Regel-Riebling, der Besitzer des Hotels, bot ihr eine Wohnung und einen Mini-Job an. Heute putzt Katrina die Zimmer, in denen die Ukrainer gelebt haben.
„Ich bin froh, dass ich arbeiten kann. Es war schlimm, nichts tun zu können“, sagt Katrina. Sie ist dankbar, dass sie eine Aufgabe hat, dass sich etwas dazuverdienen kann. Für sich und ihre Kinder Miron (4) und Sofia (9).
Manchmal, wenn sie ihr altes Zimmer im Hotel sauber macht, überkommt sie die Erinnerung. Die Erinnerung, wie aus damals aus einem Hotelzimmer ihr neues Zuhause wurde. Ein Zufluchtsort. Sie glaubt, dass sie die Zimmernummer in ihrem Leben nie mehr vergessen wird. Es war Zimmer 24.
Eine Schramme im Türrahmen erinnert an die Kinder, die hier gespielt haben
Tim Regel-Riebling ist in der Tangstedter Mühle aufgewachsen. Er kennt jede Ecke, jedes Detail. Er sieht Dinge, die anderen nicht auffallen. Eine Delle in der Wand, eine Schramme am Türrahmen. „Jede dieser kleinen Macken erinnert mich an die ganzen Kinder, die hier gewohnt haben“, sagt Tim Regel-Riebling. Die Ukrainer haben Spuren hinterlassen, auch wenn nicht jeder sie sofort sieht.
Er und sein Bruder führen den Familienbetrieb in fünfter Generation. Als sie sich vor einem Jahr dazu entschlossen, in ihrem Hotel Flüchtlinge unterzubringen, war das zunächst eine wirtschaftliche Entscheidung. „Schließlich standen die meisten Zimmer damals coronabedingt leer und wurden nicht genutzt“, sagt Regel-Riebling und erinnert sich an die schwierige Anfangsphase und Freundschaften, die nach und nach entstanden. Mit einigen Ukrainern hat er immer noch Kontakt, obwohl sie schon lange ausgezogen sind.
Früher haben die Kinder auf dem Parkplatz gespielt, heute stehen hier Autos
Es sei gut gewesen, wieder in den normalen Betrieb zurückzukehren, so Tim Regel-Riebling. Aber: „Es war fast unheimlich, wie leise und leer es plötzlich ohne die Kinder im Hotel war“, sagt Tim. Er hat selbst einen Sohn. Irgendwo in einer Garage stehen noch zwei kaputte Laufräder, mit denen die Kleinen früher über den Parkplatz gesaust sind.
Valeria fand in Tangstedt die große Liebe – und adoptierte einen verwahrlosten Welpen
Draußen, vor dem Hotel, ist Sissi ist auf Spurensuche: Der drei Monate alte Chihuahua läuft mit der Nase auf dem Boden über den Parkplatz und schnüffelt mal hier und mal dort. Im vergangenen Jahr haben die ukrainischen Kinder an dieser Stelle den Asphalt mit bunter Kreide bemalt, jetzt ist das hier Sissis Revier. Seit fünf Wochen lebt der kleine Welpe über der Tangstedter Mühle und hinterlässt überall Spuren.
Valeria Kolesnik (21) und André Wiczorek (33) haben das kleine Hundemädchen aus dem Tierheim adoptiert. Das erst wenige Tage alte Hundebaby war kurz zuvor mit zwölf weiteren Chihuahuas aus einem total verwahrlosten Haus gerettet worden. „Als ich in den sozialen Medien davon gelesen habe, musste ich fast weinen“, sagt Valeria Kolesnik. Sie wollte einem der Welpen ein neues Zuhause geben – so wie André ihr ein neues Zuhause geben hat.
Das Paar lebt über der Tangstedter Mühle und plant die Zukunft
Vor einem Jahr ist die damals 20-Jährige aus Charkiv nach Tangstedt geflüchtet, zusammen mit ihrer Tante, aber ohne ihre Eltern. „Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben“, erinnert sich Valeria. Damals hätte sie sich nie vorstellen können, dass sie länger in Deutschland bleibt – und sich hier ein neues Leben aufbaut. Mit André.
Er hat damals in der Tangstedter Mühle als Kellner gearbeitet und sich in Valeria verliebt. Inzwischen leben sie zusammen über der Tangstedter Mühle und planen die Zukunft. Sie möchten Kinder haben und träumen von einem Ferienhaus an der Ostsee. Valeria mag das Meer. Sie liebt es, wenn ihre Füße Spuren im Sand hinterlassen.
Schule im Alsterland: 23 von 400 Schülern kommen aus der Ukraine
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hotels liegt die Bushaltestelle Rathaus. Hier fährt um 7.44 Uhr die Linie 7592 Richtung Nahe ab. 20 Minuten dauert die Fahrt zur Schule im Alsterland. Seit 19. April 2022 fährt Volodymyr Viala (13) morgens mit dem 7592-er nach Nahe zur Schule. Im Sommer ist er ein paar Mal mit dem Rad gefahren, aber jetzt nimmt er meistens den Bus.
Er mag die Schule. Sie hat ihm Halt gegeben, in einer Zeit, als alles auseinandergebrochen ist. Ein Stück Normalität in einer Welt, in der nichts mehr normal zu sein schien. „Ich habe eine sehr große Schule. Es gibt einen Spielplatz, Trampoline, Schaukeln, ein Fußball- und Basketballfeld. Ich mag es, ich mag auch, dass die Schulkantine leckeres Essen kocht“, so Volodymyr.
Er hat die Sätze auf Ukrainisch aufgeschrieben und dann mit einem Sprachprogramm übersetzt. „Ich lerne Deutsch, es ist interessant. Aber es fällt mir schwer“, sagt Volodymyr. „Leider habe ich nicht viele Freunde.“
Auf seiner Schule sind 23 Jungen und Mädchen aus der Ukraine – das sind etwa fünf Prozent der 400 Schüler. Niemals vor dem Ukraine-Krieg kamen so viele Schüler in so kurzer Zeit an die Schule, die Deutsch lernen mussten. Eine große Herausforderung.
„Die meisten Schüler waren absolute Sprach- und Schriftanfänger. Viele von ihnen mussten erst einmal unsere lateinischen Buchstaben lernen“, sagt Sönke Thormählen (63). Er ist der Leiter der Schule im Alsterland, an der es für die Ukrainer zwei spezielle DaZ-Klassen gibt. DaZ bedeutet „Deutsch als Zweitsprache“ und richtete sich an Kinder, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist.
Schulleiter: Große Leistungsunterschiede in den DaZ-Klassen
„Um die Ukrainer möglichst frühzeitig zu integrieren, werden sie nach einigen Wochen nicht komplett in DaZ-Klassen unterrichtet, sondern so weit wie möglich in den Regelklassen beschult“, sagt Thormählen. „Das bedeutet, dass sie in Mathe, Englisch, Sport und Kunst am normalen Schulunterricht teilnehmen – und in Deutsch separat unterrichtet werden.“
Das Prinzip hat sich bewährt. Aber: „Da immer wieder neue Ukrainer an die Schule kommen, wir aber nicht jedes Mal eine neue DaZ-Klasse einrichten können, kommt es zu großen Leistungsunterschieden innerhalb einer Klasse“, sagt der Schulleiter.
Viele Kinder sehen keine Notwendigkeit, Deutsch zu lernen – sie wollen zurück
Und er schildert noch ein Problem: „Da es sehr viele Ukrainer in den DaZ-Klassen gibt, nutzen sie vor allem Ukrainisch für die Verständigung.“ Viele von ihnen sähen keine Notwendigkeit darin, Deutsch zu lernen – weil sie zurück in die Ukraine wollten.
Als die Lehrerin die Schüler nach dem Fasching gefragt hat, als was sie sich nächstes Jahr verkleiden werden, haben einige von ihnen gesagt: „Gar nicht. Da bin ich ja wieder zu Hause – in der Ukraine.“
Svitlana Torba schrieb viele Vermieter an – bisher erfolglos
Ortswechsel: In Wilstedt-Siedlung sitzt Svitlana Torba (59) am Esstisch und blättert durch einen dicken Ordner. Sie hat dort drinnen alle wichtigen Dokumente abgeheftet. Briefe vom Jobcenter, Informationen der Krankenkasse und Wohnungsgesuche.
Sie seufzt, wenn sie über das Thema Wohnung spricht. Seit sie und die anderen Ukrainer im Mai vergangenen Jahres aus der Tangstedter Mühle ausziehen mussten, lebt sie gemeinsam mit acht anderen Flüchtlingen zusammen in einem Haus in Wilstedt-Siedlung.
„Das sind gute Menschen, wirklich“, sagt sie und betont immer wieder, wie dankbar sie für alles ist, was Deutschland für die Flüchtlinge getan hat. Trotzdem sehnt sie sich nach einer eigenen Wohnung, nach ein bisschen Privatsphäre. Sie weiß nicht, wie viele Vermieter sie schon angeschrieben hat. Bisher erfolglos.
Auf Bitten ihres Sohnes verließ Svitlana Torba die Ukraine
Svitlana Torba ist 59, seit 37 Jahren ist sie verheiratet. Wenn sie von ihrem Mann Anatoly (59) spricht, kommen ihr die Tränen. Sie hat ihn ein Jahr lang nicht gesehen. Svitlana hatte nie vor, die Ukraine zu verlassen.
Als die ersten Bomben fielen, schleppten sie und ihr Mann die Matratzen aus ihrem Bett ins Wohnzimmer auf den Boden. „Dort war es sicherer“, sagt Svitlana und erzählt, dass sie nur auf Bitten ihres Sohnes Anton die Ukraine verlassen hat. „Er wollte, dass ich bei seinen Kindern bleibe, die nach Deutschland geflohen sind“, sagt Svitlana.
Nach 300 Stunden Deutschkursus kommt die Abschlussprüfung
Sie lernt verbissen Deutsch. Die Volkhochschule Tangstedt hatte bereits kurz nach Ankunft der Ukrainer mit ehrenamtlichen Helfern Deutschunterricht für die Flüchtlinge organisiert und schließlich zusätzlich einen offiziellen „Erstorientierungskurs“ genehmigt bekommen, der aus Bundes- und Landesmitteln finanziert wird und an vier Terminen in der Woche stattfindet.
Im Mai sind die Abschlussprüfungen. Dann haben die Teilnehmerinnen 300 Unterrichtsstunden Deutsch im Erstorientierungskurs gelernt. Svitlana und ein paar andere Frauen sprechen inzwischen so gut Deutsch, dass sie anderen bei Sprachproblemen helfen können.
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Früher war Svitlana Torba die Schülerin – jetzt hilft sie anderen bei Sprachproblemen
Neleke Timmke (29) war eine der ersten Ehrenamtlichen, die den Ukrainern Deutschunterricht gegeben hat. Sie war damals gerade in Elternzeit und froh, „etwas tun zu können“, wie sie sagt. Bereits früh sehr Svitlana aufgefallen, die immer mehr gemacht habe als jeder andere Kursteilnehmer. Auch wenn Neleke Timmke selbst die Flüchtlinge nicht mehr unterrichtet – zu Svitlana hat sie immer noch engen Kontakt.
Neleke und ihre Familie helfen der Ukrainerin bei Behördengängen und der Wohnungssuche, feiern mit ihr Weihnachten und Geburtstage. Zu ihrem 59. haben sie Svitlana einen Karteikasten geschenkt, mit dem sie Deutsch üben kann. Noch am gleichen Abend hat die Ukrainerin die ersten Karteikarten ausgefüllt. Sie möchte in Deutschland bleiben. Die Zeit hat Spuren hinterlassen.
Tangstedt: Das neue Leben der Flüchtlinge
Zurück in der Tangstedter Mühle: Im Restaurant ist es Abend geworden, gleich kommen die ersten Gäste. Katrina Torba hilft heute in der Küche aus. Ihre Wohnung liegt direkt darüber. Sie sagt, dass sie hier ein neues Zuhause gefunden hat, eine neue Familie. „Ich bin froh, dass ich jetzt hier bin“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich werde nie vergessen, welche Chance ich hier bekommen habe.“
Tim Regel-Riebling steht in der Küche und bereitet das Abendessen für seine Gäste vor. Es gibt viel zu tun, das Restaurant läuft gut. Seit ein paar Tagen hilft eine weitere Ukrainerin aus.
Letztes Jahr, kurz bevor die Ukrainer ausgezogen sind, haben ihm einige von ihnen Bilder gemalt. Einen blauen Osterhasen, einen Blumenstrauß mit gelben sowie blauen Blüten und ein Herz, das die ukrainische und die deutsche Flagge zeigt, die ineinander verschmelzen.
„Danke“ steht auf den meisten Bildern. Tim Regel-Riebling hat die Bilder aufbewahrt. Als Erinnerung an eine Zeit, die er nie vergessen wird. Er sagt, dass er schon vielen Menschen im Leben begegnet ist. Aber nur wenige haben solche Spuren hinterlassen, wie die Ukrainer.