Tangstedt. Die ersten 47 Geflüchteten aus der Ukraine sind in Tangstedt eingetroffen. Geschäftsleute haben ein Hotel für sie angemietet.

Es ist 7.48 Uhr, als der große Reisebus das Ortsschild von Tangstedt passiert. Der Bus fährt langsam, es sind nur noch ein paar Meter bis zum Ziel. Der Fahrer blickt angestrengt auf die Straße. Hier irgendwo muss es sein. Er hat schon eine lange Tour hinter sicht.

Ein paar Kinder und Eltern sind auf dem Weg zur Schule, der Unterricht fängt gleich an. Fast niemand beachtet den Bus, der durch die Hauptstraße rollt. Um die Zeit ist immer viel Verkehr. Fast niemand ahnt, dass in dem Reisebus 47 Flüchtlinge aus der Ukraine sind, die für die nächsten zwei Monate in Tangstedt leben werden. Eine Gruppe von englischen Geschäftsmännern hat den Transport organisiert und in der Tangstedter Mühle für zwei Monate 15 Hotelzimmer angemietet. Auf eigene Kosten. Die Unternehmer haben selbst Wurzeln in die Ukraine. Sie möchten anonym bleiben. Es solle nicht um sie gehen, sondern um die Betroffenen. Die Menschen.

Es sind Menschen wie Nataliia Kovelenko (38). Sie ist mit ihrer Tochter Erika geflohen. Erika ist drei Monate alt. Bereits am 22. Februar ist Nataliia mit ihrer Familie aus Kiew geflohen und hat sich in einem abgelegenen Dorf in der Westukraine an der Grenze zu Rumänien versteckt. „Eines Tages ist mein Mann aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen. Abends habe ich erfahren, dass er in den Krieg gezogen ist“, sagt Nataliia. „Unsere Männer helfen jetzt zu gewinnen“, sagt sie. „Wenn es jetzt weniger Mütter mit Kindern in den Kellern von Kiew gibt, ist es für Männer einfacher, zum Sieg zu gelangen.“

Geflüchte aus der Ukraine: Kinder haben Kuscheltiere im Arm

Es sind fast nur Frauen und Kinder im Bus, nur ein Mann ist dabei. Nachdem die Unternehmer ihr Vorhaben im Internet publik gemacht hatten, bewarben sich mehr als 1400 Menschen um die freien Plätze im Bus. Aber nur 47 von ihnen konnten mitgenommen werden, die Hälfte davon sind Kinder. Einige von ihnen haben Kuscheltiere im Arm, andere klammern sich an die Hand ihrer Mütter.

Die, die es geschafft haben, sind innerlich zerrissen. Schwanken zwischen Freude und Verzweiflung. Freude, weil sie es geschafft haben – Verzweiflung, weil ihre Familienangehörigen noch da sind. Da, wo Krieg ist. 1800 Kilometer von hier entfernt. Eine Busfahrt weit weg. Am Dienstagabend um 20 Uhr sind sie in Krakau in den Bus gestiegen, voll mit den Eindrücken des Krieges, voller Angst und Verzweiflung. Noch nicht einmal zwölf Stunden später, nach einer Nacht im Bus, sind sie Tangstedt, in einer für sie heilen Welt. Es fühlt sich unwirklich an. „Ich habe bis zuletzt nicht geglaubt, dass dieser Vorschlag real war. Ich habe sogar an das Hotel geschrieben. – und einer der Helfer bot mir an, ihn anzurufen, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung sei. Die Leute hier haben nicht nur die Ressourcen gefunden, um alles zu organisieren, sondern sie haben auch die Zeit gefunden, Fragen zu beantworten. Das ist unglaublich“, sagt Nataliia und drückt Erika an sich. Sie weiß, dass es in ihrer Heimat keinen sicheren Ort mehr gibt. Sie hat von Freunden gehört, dass deren Wohnung ausgebombt wurde. Tangstedt ist wie eine Auszeit vom Krieg. Sie weiß nicht, wie lange diese Auszeit dauern wird.

Taisija Taksijan (36) ist eine der ersten, die die Menschen begrüßt. Die Anwältin hat im Internet gelesen, dass dringend Dolmetscher gebraucht werden und sich spontan als Übersetzerin zur Verfügung gestellt. Innerhalb von Sekunden ist sie umringt, jeder hat eine Frage. Die Verunsicherung, wie es weitergeht, ist groß. Taisija Ta nickt, hört zu, beruhigt. Sie kommt aus der ehemaligen UDSSR und ist selbst als Kind nach Deutschland gekommen. Sie weiß, wie das ist, in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache. Alles fremd, weit weg von zu Hause. „Auch wenn die Erleichterung groß ist, in Sicherheit zu sein – die Menschen sind sehr verunsichert“, sagt Taisija Taksijan. Sie hat Müsliriegel und Saft für die Kinder besorgt. Der Bus ist früher angekommen als geplant, bis das Frühstück fertig ist, dauert es noch.

Ein Helfer fährt spontan zum Supermarkt und besorgt Obst und Kekse, ein anderer Mal- und Bastelsachen für die Kinder. „Oh“, sagen zwei kleine Mädchen, als sie das viele bunte Papier und die Stifte sehen. Dann fangen sie an zu malen. Ein Stück Normalität in der Fremde.

„Glaube verbindet mehr als alles andere“

Die Nachricht von der Ankunft der ersten Flüchtlinge in Tangstedt hat eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Der Kirchengemeinderat der benachbarten Kirche zum Guten Hirten sagte spontan zu, das leerstehende und etwa 200 Quadratmeter große Pastorat ebenfalls als Wohnraum zur Verfügung zu stellen. In den nächsten Tagen sollen mit Hilfe des Amtes Itzstedt dort vier bis fünf Wohnungen für Familien eingerichtet werden. „Eigentlich hatten wir andere Pläne mit dem Gebäude – aber im Moment gibt es nichts Wichtigeres und Besseres, als die Fläche so zu nutzen“, sagt André Trimpop, Vorsitzender des Kirchengemeinderates, und lud die Flüchtlinge in die offenstehende Kirche sowie zum Friedensgebet am Donnerstagabend um 18 Uhr ein. „Glaube verbindet mehr als alles andere.“

Auch der Wilstedter Sportverein und das Deutsche Rote Kreuz, Ortsverband Tangstedt, sicherten den Flüchtlingen sofort ihre Hilfe zu. Brigitte Schippmann vom DRK, die sechs Jahre lang bei der Gemeinde Tangstedt Asylbeauftragte war und auch bei der Flüchtlingskrise 2015 im Einsatz war, organisierte in kürzester Zeit einen der benötigten Kinderwagen und fertige Listen über benötigte Gegenstände an. „Wichtig ist, die Hilfe zu koordinieren. Es hilft uns nichts, wenn wir Unmengen an Sachspenden bekommen, diese aber gar nicht benötigen“, so die 69-Jährige. Wichtig sei es, dass die Kinder schnell in den Kindergarten sowie die Schule dürften.

Während die Neuankömmlinge Covid-Tests machen, frühstücken und ihre Familien in der Heimat kontaktieren, warten sie geduldig darauf, dass sie ihre Zimmer beziehen können. Das Zimmer ist wie eine Zuflucht für sie. Ein geschützter Raum. „Wir haben von der ersten Minute an Freundlichkeit und Fürsorge gespürt“, sagt Nataliia Kovelenko. Sogar ihre Katze durfte sie mitbringen. Sie weiß, dass andere das vielleicht nicht verstehen können. Aber die Katze gehört zu ihrer Familie.

Draußen ist es warm geworden, ein paar Jungs sind rausgegangen, um auf dem Parkplatz zu spielen. Sie rennen rum, lachen. Sie haben sich aus Pappe Utensilien ausgeschnitten. Es sind Pistolen. Sie spielen Krieg.

Wer die Flüchtlinge in Tangstedt unterstützen möchte, wende sich bitte per Mail an:

tangstedtukraine@gmail.com

Bedarf ist zum Beispiel an Übersetzern, Sprachlehrern, aber auch „Paten“, die einzelne Flüchtlinge betreuen.

Der DRK Ortsverband Tangstedt hat ein Spendenkonto für die Flüchtlinge eingerichtet.

Kontoinhaber: Brigitte Schippmann.

Stichwort: Ukraine Flüchtlinge

DE 78 213 522 400 210 00 16 16

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