Tangstedt. Die PR-Managerin hatte Glück: Ihr Mann durfte die Ukraine verlassen und hat hier einen Job. Doch irgendwann wollen sie zurück.
Im Sanddornstieg haben sie den Tannenbaum bereits vor zwei Wochen aufgestellt. Damit sie davon einige Zeit etwas haben, sich lange daran erfreuen können. Knapp drei Meter ist er hoch, die Spitze berührt fast die Wohnzimmerdecke. 80 Euro haben sie dafür bezahlt, aber das war es ihnen wert.
Alle Flüchtlinge haben zusammengelegt, jeder hat sich an dem Baum beteiligt. Sie sind zu neunt in dem Haus, die meisten von ihnen leben seit dem Auszug aus der Tangstedter Mühle hier. Eine Familie ist vor Kurzem ausgezogen, eine andere dazugekommen.
Kriegsflüchtlinge: Sie feiern Weihnachten zum ersten Mal im Dezember
Nataliia Kovalenko (39) hat die Nordmanntanne gekauft und geschmückt. Die Kugeln sind von Ebay, sie hat nur ein paar Euro für eine ganze Kiste bezahlt. Sie kauft viele gebrauchte Sachen im Internet, weil es billiger ist. Früher hätte sie sich das nicht vorstellen können, heute ist es normal für sie.
Wenn sie von früher spricht, meint sie vor dem Krieg, vor ihrer Flucht. Als die ersten Bomben im Februar auf Kiew fielen, verließ Nataliia Kovalenko gemeinsam mit ihrer damals erst drei Monate alten Tochter Erika und ihrem Kater Mister Orange die Hauptstadt. Ihr Mann Erik brachte sie damals in ein abgelegenes Dorf in der Westukraine, verließ die Familie aber, um selbst in den Krieg zu ziehen.
Nataliia sagte damals, dass es für die Männer einfacher sei, zum Sieg zu gelangen, wenn es weniger Mütter mit Kindern in den Kellern von Kiew gebe. Sie war stolz darauf, dass ihr Mann eine Ausbildung zum Scharfschützen machte und für sein Land kämpft.
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Erik hat Nataliia nicht zurück in die Ukraine geholt
Damals dachte sie, Erik würde irgendwann als Sieger nach Deutschland kommen und sie nach Hause holen. Und Erik kam tatsächlich nach Deutschland, im Juni, nach 109 Tagen Trennung. Doch er kam nicht, um seine Familie abzuholen. Sondern um zu bleiben. Er hatte eine Ausnahmegenehmigung bekommen, weil er drei minderjährige Kinder hat: Erika – und zwei Kinder aus seiner ersten Ehe, die ebenfalls in Tangstedt leben.
Es war nicht leicht für Erik, sich hier einzuleben. In den ersten Wochen haderte er mit seiner Entscheidung, die Ukraine zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Er hatte Angst, für ein Deserteur gehalten zu werden, war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, bei seiner Familie zu sein – und dem eigenen Anspruch, für sein Land kämpfen zu müssen.
Seit ein paar Wochen hat Erik einen Job bei einer Firma für Wohnmobile
Manchmal zweifelt er noch immer, was richtig ist. Aber es wird von Tag zu Tag weniger. Seit einigen Wochen hat er einen Mini-Job bei einer Reparaturfirma für Wohnmobile. Es ist nicht leicht für ihn, weil er kein Deutsch spricht. Aber er ist froh, dass er eine Aufgabe hat und Geld verdient.
Früher, zu Hause, als alles noch normal war, hat Erik Reisen für Touristen durch die Ukraine veranstaltet. Sogar eine eigene Wohnwagenvermietung hatte er: Be Camper. Er vermisst seinen alten Job und möchte das Geschäft zusammen mit Nataliia so schnell wie möglich wieder aufnehmen. Sie stecken gerade mitten in den Vorbereitungen. Sobald es sicher ist, wollen sie Gruppenreisen für Deutsche in die Karpaten anbieten.
Nataliia und Erik werben auf der Reisemesse für Urlaub in der Ukraine
Im August waren sie auf der Weltleitmesse für mobiles Reisen – Caravan Salon Düsseldorf. Dort haben sie ihr Konzept vorgestellt. „Die Leute hatten nicht damit gerechnet, einen Stand über die Ukraine zu sehen“, sagt Nataliia und erzählt, wie viele Menschen sie angesprochen hätten und um weitere Informationen gebeten haben. „Es war eine so coole Gelegenheit, ein ganzes Land zu repräsentieren“, so Nataliia.
Sie hofft, dass sie bald einen Krippenplatz für Erika bekommt. Sie ist gerade eins geworden. Sobald sie vormittags betreut wird, will Nataliia sich hier eine Selbstständigkeit aufbauen. In den vergangenen Wochen hat sie bereits Firmen aus der Region angeschrieben, um für sie Social-Media-Kampagnen zu entwickeln. Sie vermisst ihre Arbeit.
Erika soll in der Krippe deutsch lernen, Nataliia macht einen Sprachkursus
Seit ein paar Wochen macht sie einen Deutschkursus. Sie weiß jetzt, wie wichtig es ist, die Sprache zu lernen – auch für Erika. Nataliia hofft, dass Erika in der Krippe Deutsch lernt. „Ohne Sprache geht es nicht“, sagt Nataliia. Im Moment verständigt sie sich auf Englisch. „Noch!“, sagt sie entschieden. Das soll sich schnell ändern. Ein paar der anderen Frauen im Haus sprechen bereits richtig gut Deutsch. Nataliia beneidet sie darum.
Kriegs-Flüchtlinge: Zum ersten Mal feiern sie Weihnachten nicht im Januar
Ihr ganzes Leben lang hat sie Weihnachten am 7. Januar gefeiert, so wie viele Menschen in der Ukraine. Ihre Großmutter habe sie seit ihrer Kindheit die alten Rituale gelehrt, die ihrer Familie heilig gewesen seien. In diesem Jahr werden sie zum ersten Mal am 24. Dezember Weihnachten feiern. Und auf Frieden hoffen. So wie er in der Weihnachtsbotschaft verkündet wird.
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.“