Tangstedt. Valeria war Flüchtling, Andre Mitarbeiter in ihrer Unterkunft. Wie sie sich kennenlernten und warum er schon an Babys denkt.
Es gab eine Zeit, ganz am Anfang, da hat sie die Tage gezählt. Die Tage, wie lange der Krieg schon dauert. Wie lange sie schon von ihrer Familie getrennt ist, von ihren Eltern, ihrem Zuhause. Wie lange sie schon alleine ist.
Am Anfang dachte Valeria Kolesnik, dass jeder Tag auf der Flucht das Ende des Krieges näher rücken lässt. Dass alles schnell wieder vorbei ist und sie bald zurück in ihre Heimat kann, in die Ukraine, nach Charkiw. Irgendwann dachte sie das nicht mehr. Da hörte sie auf zu zählen.
Ukraine: Schutz und große Liebe in Deutschland
Sechs Monate ist es her, dass Valeria Kolesnik aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist, zusammen mit ihrer Tante Tetiana und ihrem Cousin Maxim, aber ohne ihre Eltern, die sich um die schwerkranke Großmutter kümmern mussten. Es ist der 24. Februar, als sich ihr Leben für immer verändert. Als sie ihre Familie verlässt, verliert sie ihren Halt. Künftig gibt es für sie kein „Wir“ mehr, sondern nur noch sie. Sie alleine. Valeria ist damals 20 Jahre alt.
Laut Duden bedeutet alleine: „Ohne die Anwesenheit, Gegenwart eines anderen oder anderer, getrennt von anderen, ohne Gesellschaft, für sich.“ Oder aber auch: „Einsam, vereinsamt.“
Valeria ist nie allein – aber immer einsam
Es scheint wie ein Paradoxon: Von dem Moment an, als die ersten Bomben in Charkiw einschlagen und Valeria auf der Flucht ist, gibt es keine Möglichkeit mehr des Alleinseins. Sieben Tage lang versteckt sie sich mit dutzenden von Fremden im Keller einer Schule und schläft auf dem Boden, dann flieht sie aus der Stadt. Die Straßen sind verstopft, die Züge überfüllt. Die Grenze überquert sie zu Fuß, in einer scheinbar endlosen Schlange von Menschen. Sie ist nie alleine, aber immer einsam.
Es ist Tag 13 des Krieges, als sie in Tangstedt eintrifft. Für Valeria fühlt es sich an wie in einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Zu Hause der Krieg, die Zerstörung, hier das kleine Dorf, die heile Welt. Es ist schwer für sie, die Extreme in Einklang zu bringen. Hier zu leben, aber mit dem Herzen dort zu sein. Sie hat Heimweh nach ihrer Mutter.
„Ich bin in Deutschland. Aber meine Seele ist in Charkiw“, schreibt sie damals in ihr Tagebuch. Es ist Tag 22 des Krieges. Es ist der Tag, als in der belagerten Hafenstadt Mariupol ein Theater mit Zivilisten beschossen wird. Bei einer Videoansprache im Bundestag fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, den Krieg zu stoppen.
Wie sich Valeria verliebt hat
Heute, fast sechs Monate später, fragt sie sich manchmal, wann es angefangen hat. Wann sie sich wieder vorstellen konnte, dass es irgendwann nicht mehr nur sie gibt. Dass aus dem „Ich“ irgendwann wieder ein „Wir“ werden könne. Sie weiß es nicht mehr.
Rückblickend verschwimmen die ersten Wochen in Deutschland für Valeria zu einem Kaleidoskop aus Bildern und Momenten. Das Hotel, in dem sie untergebracht werden. Die anderen Frauen, mit denen sie jetzt zusammenwohnt. Sightseeing in Hamburg, Currywurst, Rathausmarkt. Hafen. Deutschunterricht. Kleiderkammer. Ohrenschmerzen. Krankenhaus. Andre.
Andre Wiczorek (33) ist ein Teil dieser neuen Welt, in die der Krieg sie gebracht hat. 1600 Kilometer von zu Hause entfernt. Er ist einer der Kellner in dem Hotel, in dem sie nach ihrer Flucht die ersten Wochen lebt. Ein Geschäftsmann hatte das Hotel auf eigene Kosten gemietet, um dort 50 Flüchtlinge unterzubringen. Andre arbeitet dort im Service. Er kümmert sich um das Frühstück und das Abendessen – und um die Menschen, die alles verloren haben.
Die Liebe schleicht sich unauffällig an
Früher, in der Ukraine, hat Valeria in einem Hostel gearbeitet und die Gäste betreut. Jetzt ist sie selbst ein Gast. Im Hotel und in einem fremden Land, das sie nicht kennt und in dem sie nicht sein möchte. Sie hat Heimweh. In den ersten Wochen weint sie fast jeden Tag. Abends, wenn sie allein im Bett liegt. Damit es niemand sieht.
In der Liebe gibt es angeblich diesen magischen Moment, in dem die Welt stehenbleibt. In dem sich ein Paar zum ersten Mal sieht, verliebt. Wie bei einer Explosion, überwältigend. Unvergesslich. Bei Valeria und Andre ist es anders. Die Gefühle überfallen sie nicht, sie schleichen sich langsam an, fast unmerklich.
Andre merkt es an Kleinigkeiten. Dass er im Speisesaal Ausschau nach ihr hält. Dass sein Blick öfter an ihr hängenbleibt als an den anderen. Dass er sie ansprechen möchte – aber es nicht macht. Er will sich professionell verhalten. Abends, nach der Arbeit, setzt er sich manchmal zu den anderen Frauen und scherzt mit ihnen. Valeria ist nie dabei.
Nicht nur verknallt – extrem verliebt
Irgendwann, als sie alle schon längst keine Tage mehr sondern nur noch die Wochen des Krieges zählen, erfahren die Flüchtlinge, dass sie in eigene Wohnungen ziehen können. Bis dahin sind es nur noch zwei Wochen. Andre befürchtet, dass er Valeria danach vielleicht nicht wiedersehen wird. Er weiß nicht, was er tun soll. Bis er sie ein paar Tage später allein vor dem Hotel sitzen sieht und sie anspricht. Sie reden 30 Minuten lang.
Keiner von ihnen erinnert sich an das Datum, an den Wochentag oder die Uhrzeit. Es ist ein Moment, losgelöst von Raum und Zeit. Es ist der Moment, in dem ihre gemeinsame Geschichte beginnt.
Wenn sie heute über die Zeit sprechen, sagen sie manchmal damals. Damals, als sie Nummern austauschen, zu chatten beginnen. Zuerst ein paar Mal täglich, dann manchmal mehrmals stündlich. Damals, als sie immer öfter zusammensitzen, reden, scherzen. Als sie das erste Mal Schmetterlinge im Bauch haben.
Als sich Valeria und Andre das erste Mal küssten
Sie sagen damals, weil es ihnen vorkommt wie vor einer Ewigkeit. Weil die gemeinsame Zeit so intensiv ist, dass Tage ihnen wie Wochen vorkommen. „Wir waren von Anfang an nicht einfach verknallt“, sagt Andre. „Wir waren sofort extrem verliebt.“ Am 9. Mai küssen sie sich das erste Mal. Valeria lebt seit zwei Monaten in Deutschland. Es ist Tag 75 des Krieges. Doch Valeria hat aufgehört, die Tage des Krieges zu zählen. Es ist der Tag, an dem NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den russischen Präsidenten Wladimir Putin auffordert, seinen Angriffskrieg zu beenden.
Mehr als vier Monate sind seitdem vergangen. Valeria ist kurz nach ihrem ersten Kuss aus Tangstedt weggezogen – und wieder zurückgekehrt. Sie lebt jetzt bei Andre. Er hat eine Wohnung über dem Hotel. Zuerst hat sie nur ein paar Dinge bei ihm gelassen, dann haben sie irgendwann alle ihre Sachen geholt. Viel war es nicht, es in eine Tasche gepasst. Die Wohnung ist ihre kleine Höhle. Ein Rückzugsort. „Cosy Home“ nennt Valeria die Wohnung. „Gemütliches Zuhause“. Sie hat das Gefühl, angekommen zu sein. Sie fühlt sich nicht mehr als Flüchtling, als Fremde. Sondern als Frau.
Seit sie in Deutschland ist, hat sie Tagebuch geschrieben und vieles im Internet veröffentlicht. Über ihre Flucht, den Krieg, über Putin und Russland, ermordete Soldaten, verstorbene Freunde. Über Zerrissenheit und Heimweh, Wut und Hoffnungslosigkeit. „Jeder auf dem Planeten soll wissen, was Russland tut“, schreibt sie am 27. März. Dann, einen Monat nach ihrer Ankunft: „Jeder Tag ist wie eine Herausforderung. Ich möchte nach Hause gehen.“
Valerias Post mit drei Herzen
Irgendwann verändern sich die Kommentare, die sie schreibt. Im Mai postet sie das erste Mal drei Herzen. Danach ein gemeinsames Foto von ihr und Andre. Ihre Worte „Ich liebe Dich“, und „Du bist so viel mehr als Liebe.“ Im August schreibt sie unter ein Foto von ihnen beiden: „Meine Welt“. Immer öfter veröffentlicht sie Fotos, auf denen sie mit Andre zu sehen ist. Aus dem „Ich“ ist ein „Wir“ geworden.
Es fällt ihr leichter, über ihre Gefühle zu schreiben, als zu sprechen. Sie lernt erst seit ein paar Monaten Deutsch. Mit Andre spricht sie Englisch. Er nennt sie „Honey“. Süße, Schatz, Liebling. Andre sagt, dass er noch nie so glücklich war. Vor ein paar Wochen hat er seinen Job gekündigt. Er möchte mehr Zeit mit Valeria verbringen, nicht mehr abends und am Wochenende arbeiten müssen.
Seit kurzem arbeiten sie gemeinsam bei Edeka. Sie an der Kasse, er an der Fleischtheke. Valeria hat einen Vollzeitjob, sie ist stolz darauf. Sie bekommt keine Sozialleistungen mehr. Es ist ein gutes Gefühl. Sie hat angefangen, Pläne zu machen, an die Zukunft zu denken. Andre und sie wollen zusammen verreisen. Er möchte nach Norwegen, sie einfach ans Meer. Sie mag die Wellen, den Strand. Am Wochenende fahren sie manchmal an die Ostsee. Hier fühlt sie sich frei.
Ist ihre alte Heimat noch ihr Zuhause?
Früher hat sie oft darüber gesprochen, was sein wird, wenn sie wieder zurückkehrt. Nach Charkiw, zu ihren Eltern, ihrer Familie. Zu ihrem Zuhause, in ihre Heimat. Jetzt fragt sie sich manchmal, ob ihre alte Heimat noch ihr Zuhause ist. Oder ob es inzwischen hier ist. Bei Andre. Es ist ein merkwürdiger Gedanke.
„Ich habe kein Leben mehr außerhalb von Deutschland. Ich habe hier meine Liebe, meinen Frieden und meine glückliche Zukunft gefunden“, schreibt sie im August. Als sie ihre Heimat verlassen hat, sei sie ein Risiko eingegangen. „Und ich habe es nicht bereut.
Ukraine: Andre war unglücklich – bis Valeria kam
Neulich hat sie Andres Eltern kennengelernt. Sie finden, dass Valeria ihrem Sohn guttut. „Lera akzeptiert mich so, wie ich bin“, sagt Andre. Er hat ihr einen Kosenamen gegeben: Lera. In der Gastronomie sei es nicht leicht, eine Frau zu finden. Die Liebe zu finden. In den letzten Jahren hat er manchmal gedacht, dass er alleine bleiben wird. Heute kann er sich nicht vorstellen, jemals wieder allein zu sein.
Er vermisst die anderen Flüchtlinge, die Frauen und die Kinder. Im Hotel ist es ruhig geworden. Früher haben die Kinder auf dem Hof Fangen und Fußball gespielt, jetzt parken dort Pkw. Er vermisst ihr Lachen. Er möchte selbst Kinder haben. Am liebsten bald, denkt er, seit er Valeria kennt. Er ist 33, Valeria 21. Ihre Mutter war 21 Jahre alt, als Valerias Schwester geboren wurde.
Sie hofft, dass ihre Mutter sie bald besuchen kommt. Sie zählt die Tage bis sie sich wiedersehen. Ihr Vater darf nicht ausreisen. Während des Krieges dürfen Männer die Ukraine nicht verlassen.
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Von ihrer Wohnung aus können sie die Tangstedter Kirche sehen. Valeria mag den Blick, die Kirche beruhigt sie irgendwie. Aber sie hat Angst, wenn die Glocken läuten. Das erinnert sie an die Sirenen in Charkiw. An den Fliegeralarm, Explosionen. An Schreie, Tränen. Den Geruch von Blut. „Jede Nacht schlafe ich ein mit Raketen, Explosionen, fallenden Flugzeugen“, schreibt Valeria bei Instagram. Und: „Eines Tages werde ich aufhören, Angst vor Explosionen zu haben. Vielleicht kann ich nur gute Träume sehen. Irgendwie leben. Alles ok.“ Manchmal glaubt sie, dass es gar nicht mehr lange dauern wird, bis es soweit ist.