Tangstedt. Die Zahnärztin floh vor neun Monaten nach Deutschland. Die Kluft zwischen neuem Wohnort und alter Heimat wird immer größer.

Die Tanne hat schon ein paar Nadeln verloren. In den vergangenen Wochen ist Svitlana Viala (42) fast täglich an dem großen Weihnachtsbaum vorbeigekommen, der vor dem Tangstedter Rathaus steht. Wenn die 42-jährige Ukrainerin zur Arbeit oder zum Deutschkursus geht, läuft sie direkt an der geschmückten Tanne vorbei. Der Weihnachtsbaum ist ein Symbol für Fruchtbarkeit und Leben. Überleben.

Der Anblick macht sie jedes Mal ein bisschen traurig.

Kriegs-Flüchtlinge: Svitlana und die Kinder feiern erstes Weihnachten in Tangstedt

Im vergangenen Jahr hat Svitlana Viala zu Weihnachten auch einen Tannenbaum aufgestellt, mit Kugeln und bunten Girlanden geschmückt. In diesem Jahr gibt es bei ihnen keinen Baum, nur ein paar Tannenzweige. Es ist ihr erstes Weihnachten in Deutschland.

Vor neuneinhalb Monaten ist Svitlana Viala mit ihren Kindern Volodymyr (13) und Diana (8) aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Ein Geschäftsmann hatte auf eigene Kosten die Tangstedter Mühle angemietet, um dort 50 Frauen und Kinder unterzubringen – für zwei Monate. Als die Kriegs-Flüchtlinge am 8. März in der Gemeinde eintrafen, glaubte niemand von ihnen, dass sie so lange blieben würden. Dass der Krieg länger als ein paar Wochen dauern würde. Die meisten von ihnen leben immer noch hier.

Die Kinder vermissen ihren Vater – aber sie wollen nicht mehr zurück in die Ukraine

Svitlana Viala weiß heute selbst nicht mehr, wann ihr bewusst wurde, dass es kein Zurück gibt. Dass sie sich eine Zukunft in Deutschland vorstellen kann, nicht aber in der Ukraine. Einem völlig zerstörtem Land. „Selbst wenn der Krieg irgendwann endet – das Land ist völlig vermint“, sagt sie. Das sei einfach zu gefährlich für die Kinder.

Die Kinder. Volodymyr und Diana. Das ist das einzige, was für sie zählt. Sie merkt, dass die beiden angekommen sind. „Natürlich vermissen sie ihren Vater“, sagt Svitlana. Aber keiner der beiden will zurück in die Ukraine. Deutschland ist ihr Zuhause geworden.

Ihre Heimat fühlt sich nicht mehr nach Heimat an

Im Herbst, als die Kinder Ferien hatten, sind sie nach Kiew gefahren. 30 Stunden dauerte die Fahrt mit dem Bus von Deutschland über Polen in die Ukraine. Während der Busfahrt werden sie zu Wandlern zwischen den Welten. Es ist, als ob sie eine Welt verlassen und 30 Stunden später in einer anderen landen. Das Land, das sie im Februar verlassen hatten, gibt es nicht mehr. Ihre Heimat fühlt sich nicht mehr nach Heimat an.

Ihre Wohnung in Kiew ist dieselbe wie immer. Aber draußen ist nichts wie zuvor. Wenn Svitlana aus dem Fenster im 9. Stock guckt, sieht sie in der Stadt Raketen einschlagen. In den ersten Tagen hat sie Angst vor den Sirenen und Explosionen, dann gewöhnt sie sich an den Alarm. Der Krieg ist Alltag geworden.

Sie haben angefangen, Tangstedt als ihr Zuhause zu bezeichnen

Zwei Monate ist das jetzt her. Inzwischen sind Svitlana und die Kinder wieder zu Hause, in Tangstedt. Irgendwann haben sie angefangen, Tangstedt als ihr Zuhause zu bezeichnen. Sie haben das Gefühl, angekommen zu sein, hierher zu gehören. Sie haben Freunde gefunden, sind im Sportverein – und Svitlana kann sogar in ihrem alten Job als Zahnärztin arbeiten.

Nur vier Wochen nach ihrer Ankunft in Deutschland konnte Svitlana ein Praktikum bei dem Tangstedter Zahnarzt Dr. Hamid Basefat beginnen, seit 1. Juli arbeitet sie dort auf Minijob-Basis.

Wenn sie über den Job spricht, sagt sie: „Ich darf morgen wieder arbeiten gehen.“ Sie empfindet das als Privileg, fiebert den Tagen entgegen, wenn sie zu Hause ihr weißes Shirt und die weiße Hose anzieht und die Dorfstraße entlang in die Praxis von Dr. Basefat geht. Auch, wenn sie im Moment noch nicht „richtig“ eingesetzt werden kann, sie ist glücklich, dass sie eine Aufgabe hat.

Svitlana arbeitet bei einem Zahnarzt – darf aber nicht als Zahnärztin praktizieren

„Richtig“, das bedeutet für sie, dass sie noch nicht die gleichen Tätigkeiten und Behandlungen wie in Kiew übernehmen darf. Die gleiche Verantwortung. Denn bisher hat sie keine Approbation für Deutschland. Das heißt, sie darf nicht als Zahnärztin praktizieren. Aber sie darf Prophylaxe machen. Kontrolltermine, Zahnsteinentfernung und Zahnreinigung. Eigentlich ist sie dafür überqualifiziert. Aber sie ist froh, dass sie überhaupt etwas mit ihren Händen tun kann, damit sie nicht aus der Übung kommt.

In den vergangenen Monaten musste sie viel lernen über das deutsche Gesundheitssystem und bürokratische Hürden, die es zu nehmen gilt. Denn die Zulassung von ausländischen Ärzten in Deutschland ist streng geregelt.

Wenn ein ausländische Ärztin die Erteilung einer Approbation in Deutschland beantragt, prüft die zuständige Behörde, ob die ausländische ärztliche Ausbildung gleichwertig mit der ärztlichen Ausbildung in Deutschland ist.

Svitlana Viala hat in der Ukraine als Zahnärztin in einer Klinik gearbeitet. Sie hatte dort eine hohe Position. In Deutschland darf sie noch nicht wieder als Zahnärztin praktizieren.
Svitlana Viala hat in der Ukraine als Zahnärztin in einer Klinik gearbeitet. Sie hatte dort eine hohe Position. In Deutschland darf sie noch nicht wieder als Zahnärztin praktizieren. © Miriam Opresnik | Privat

Der lange Weg bis zur Approbation in Deutschland

Das Problem: „In der Regel wird bei Ärztinnen/Ärzten aus einem Drittstaat – zum Beispiel außerhalb der EU – festgestellt, dass die Ausbildungsinhalte nicht mit den deutschen Anforderungen gleichwertig sind“, heißt es vom Sozialministerium. In diesem Fall könnten die Antragssteller eine Kenntnisprüfung in der Medizin ablegen.

Aber: Für die Erteilung einer Approbation sind zudem Sprachkenntnisse auf dem Niveau C1 erforderlich. C1 bedeutet, dass Jemand anspruchsvolle Texte erfassen kann, sich spontan und fließend ausdrücken kann und in der Lage ist, sich klar, strukturiert und ausführlich zu komplexen Sachverhalten zu äußern.

Svitlana geht zweimal in der Woche zum Deutschunterricht. „Am Anfang war es hart, aber jetzt wird es besser“, sagt Svitlana. Als sie im März nach Deutschland gekommen ist, konnte sie sich nur auf Englisch verständigen, jetzt versteht sie immer mehr deutsch. „Verstehen ist leichter als sprechen“, sagt sie. Doch sie bemüht sich, so viel wie möglich zu sprechen.

Die erste Sprachprüfung steht an – eine von vielen, die sie für die Berufserlaubnis braucht

Im nächsten Jahr möchte sie eine Sprachprüfung machen und das A2-Zertifikat bekommen. Sie weiß, dass sie ohne Sprachkenntnisse nicht als Ärztin praktizieren kann. Eine Anwältin hat ihr erklärt, dass sie auch ohne Approbation eine vorübergehende Erlaubnis zur Berufsausübung beantragen kann. Mit dieser könnte sie für bis zu zwei Jahre als ausländische Ärztin oder Arzt unter Aufsicht eines approbierten Arztes in Deutschland praktizieren. Doch auch dafür muss sie Sprachkenntnisse auf dem Niveau von mindestens B2 nachweisen.

Manchmal hat sie das Gefühl, dass der Weg bis dahin noch unendlich ist. Doch sie weiß, dass es kein Zurück gibt.

Kluft zwischen alten und neuem Leben wird größer

Je länger sie in Deutschland lebt, um so größer wird die Kluft zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben. Zwischen hier und dort. Zwischen der scheinbar heilen Welt in Tangstedt und dem Krieg in der Ukraine. Manchmal hat sie das Gefühl, dass es sie innerlich zerreißt. Weil sie in Sicherheit ist und eine warme Wohnung hat – während ihr Mann und ihr Vater weiter in Gefahr sind, noch nicht mal mehr heizen können. Sie hat ihnen warme Decken und Kleidung geschickt. Außerdem Nüsse, Würstchen und andere Lebensmittel, die man nicht erhitzen muss, sondern einfach so essen kann.

Zu Weihnachten hat sie sich selbst ein Geschenk gemacht: Eine Daunendecke, die sie bei Aldi gekauft hat. Heiligabend feiern sie mit einer Nachbarin, sie sind in den zurückliegenden Monaten Freunde geworden. Es fühlt sich gut an, nicht allein zu sein.

Kriegs-Flüchtlinge: Weihnachten feiern mit einem Wunsch! Frieden

Wenn sie beim Essen anstoßen, wird sie an ihren Mann denken und sich wieder einmal wünschen, dass es Frieden gibt. Sie will die Hoffnung nicht aufgeben. Gerade jetzt nicht, zu Weihnachten. Dem Fest der Hoffnung, im Angesicht einer Welt voll Angst und Gewalt.

„Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue dich, o Christenheit“, heißt es in „O Du fröhliche“. Es ist eins der meistgesungenen Weihnachtslieder in Deutschland.