Norderstedt. Iryna Mikulska war Schleswig-Holsteins erste ukrainische Lehrerin für geflüchtete Kinder. Wie ihr Alltag in Norderstedt heute aussieht.
Iryna Mikulska, 38, arbeitet 17 Jahre lang als Lehrerin in Kiew. Dann kam der Krieg – und sie musste ihre Heimat verlassen. Sie flüchtete nach Deutschland und bekam im März als erste Lehrerin aus der Ukraine eine Anstellung in Schleswig-Holstein, speziell für die Betreuung geflüchteter Kinder. Seit neun Monaten arbeitet sie nun in der Gemeinschaftsschule Harksheide in Norderstedt. Wir haben Sie wiedergetroffen.
Norderstedt: Lehrerin aus der Ukraine fühlt sich manchmal schuldig
Hamburger Abendblatt: Frau Mikulska, Sie unterrichten eine Klasse 16 mit ukrainischen Kindern und Jugendlichen, im Alter zwischen 10 und 15 Jahren. Können Sie beschreiben, wie die Situation im März war, als es losging – und wie sie jetzt ist?
Iryna Mikulska: Die Kinder haben jetzt weniger Angst. Und sie sind fröhlicher. Als wir im März begannen, mit ihnen zu arbeiten, konnte man den Kindern ihren Kummer und ihre Sorgen wirklich ansehen. Sie gingen mit gebückten Rücken über den Schulhof. Das war ein sichtbarer Unterschied zu den deutschen Schülern. Und so ging es mir auch, glaube ich – ich lief mit gebücktem Rücken durch die Gegend. Wir hatten auch Angst vor Flugzeugen, die Kinder und ich. Norderstedt liegt ja sehr nah am Hamburger Flughafen, gelegentlich sieht man ein Flugzeug starten oder landen. So etwas jagte uns einen riesigen Schrecken ein. Aber das wurde mit der Zeit besser. Heute lachen die Kinder viel mehr, machen Scherze. Sie sind entspannter. Und unsere Klasse beteiligt sich am Schulleben. Wir werden zum Beispiel einen eigenen Stand beim Schulweihnachtsmarkt haben, am 8. Dezember. Die Kinder bereiten das mit viel Eifer vor...
Sind in der Klasse noch dieselben Kinder wie im März, oder gab es Veränderungen?
Es sind fast noch dieselben Kinder. Ein Mädchen hat die Klasse verlassen, sie ist mit ihrer Mutter zurück in die Ukraine gegangen. Und zwei Kinder sind im Spätsommer neu in die Gruppe gekommen. Ich bin sicher, sie haben viel mehr vom Krieg sehen müssen als wir, die im Frühjahr geflüchtet sind. Bisher haben wir darüber aber nicht gesprochen, ich möchte diesen Kindern auch keine Fragen dazu stellen.
Sprechen Sie im Unterricht über den Krieg?
Am Anfang haben wir das getan, ja. Wir haben viel darüber geredet. Viele Kinder hatten das Bedürfnis, ihre Erfahrungen zu teilen, die Worte sprudelten nur so aus ihnen heraus. Aber mittlerweile ist das Thema eher im Hintergrund. Natürlich machen sich die Kinder Sorgen um ihre Väter, die im Krieg kämpfen müssen. Aber sie haben hier auch einen Alltag, der sie ablenkt. Es ist auch unser Ziel, sie auf andere Gedanken zu bringen. Kinder haben ein Recht, Kinder zu sein.
Ukrainische Kinder machen sich Sorgen um Väter – aber können wieder lachen
Wie unterrichtet man eine Klasse mit Kindern so unterschiedlicher Altersstufen?
Das ist durchaus eine Herausforderung. Aber wir bekommen das hin. Manchmal teilen wir die Klasse in zwei Gruppen, manchmal gibt es unterschiedliche Aufgaben für die Kinder. Wir machen auch Ausflüge, denn ich möchte, dass die Kinder ein Gefühl für ihre neue Umgebung bekommen. Wir haben viele Orte in Hamburg besucht, Hagenbecks Tierpark zum Beispiel, oder eine Eislaufbahn. Und wir gehen auch gelegentlich raus in die Natur.
Unterrichten Sie nach ukrainischen Lehrplänen? Oder nach deutschen, für Schulen in Schleswig-Holstein?
Meine Klasse ist eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache, Anm. d. Red.). Wir unterrichten also nach dem deutschen System, nach dem schleswig-holsteinischen Lehrplan für DaZ-Klassen. Ich unterrichte Ukrainisch und Englisch, die Kinder haben bei anderen Lehrern außerdem Unterricht in Deutsch, Mathematik und Kunst.
Sie haben lange in der Ukraine unterrichtet, nun in Deutschland. Was sind die Unterschiede?
In Deutschland ist Schule freier. Das System ist stärker auf die Schüler hin orientiert, auf ihre Ideen, ihre Kreativität. In der Ukraine ist der Lehrer der Boss und Disziplin ist sehr wichtig. Zu einem gewissen Grad haben wir immer noch ein Bildungssystem aus Sowjetzeiten. Einiges von dem, was ich hier in Deutschland lerne und erfahre, würde ich gerne mit in die Ukraine bringen, wenn ich zurückkehren kann.
Lehrerin aus der Ukraine: „Deutschland hat mir viel gegeben“
Wie ist Ihre persönliche Situation, verglichen mit dem März?
Am Anfang stand ich unter Schock. An vieles von dem, was damals passierte, erinnere ich mich gar nicht. Es war alles so intensiv. Ich hätte mir früher nicht einmal im Traum vorstellen können, dass ein Krieg ausbricht und dass ich plötzlich ein Flüchtling bin. Es fühlte sich an, als schaute man einen schlechten Film, den man aber nicht abschalten kann. Dieses Gefühl ist nicht verschwunden, aber ich habe auch angefangen, wieder ein bisschen das Leben zu genießen. Ich bin ein bisschen in Norddeutschland unterwegs gewesen, habe mir Orte wie Lübeck, Mölln, Friedrichstadt und Lüneburg angesehen. Und ich habe hier so viel Hilfe bekommen … Freunde aus Hamburg halfen mir, mit den vielen Briefen und Dokumenten klarzukommen. Eine ältere Dame aus Norderstedt hat mir ein Zimmer vermietet, sie half mir auch dabei, meinen neuen Alltag zu organisieren. Und sie half mir, die Wohnung zu finden, in der ich jetzt lebe. Eine andere deutsche Familie lädt mich immer wieder dazu ein, einmal ein paar Tage in ihrem Ferienhaus zu verbringen. Und auch die Kollegen an der Schule sind wirklich sehr nett. Sie unterstützen mich bei vielen Dingen, ich werde auch zu Geburtstagen eingeladen. Diese Schule hat mir viel gegeben. Deutschland hat mir viel gegeben. Ich bin dafür sehr dankbar. Auf der anderen Seite fühlt es sich schlecht an, dass es mir gut geht, aber meiner Familie in Kiew nicht. Ich fühle mich manchmal sogar schuldig deshalb, obwohl ich weiß, dass ich das nicht sollte.
Wie ist die Situation ihrer Familie?
Sie leben – Gott sei Dank. In Kiew wohnte ich zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder in einer Wohnung. Mein Bruder ist 34 Jahre alt, er arbeitet in einem Elektrizitätswerk. Deshalb muss er nicht in die Armee, allerdings wird das Werk mehrmals täglich von der Russischen Armee angegriffen. Letzte Woche sind zwei Mitarbeiter dort bei diesen Luftangriffen gestorben. Meine Mutter ist 62, sie arbeitet ebenfalls an einem Ort, der immer wieder angegriffen wird. Ihr Leben ist sehr hart. Manchmal haben sie keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung. Meine Mutter schreibt mir jeden Morgen eine Nachricht, in der sie mir mitteilt, dass sie noch am Leben sind. Wir telefonieren auch zweimal täglich. Kürzlich erzählte sie mir, dass sie gerade Kreuzworträtsel gelöst hat, mit einer Taschenlampe, in eine Decke gehüllt… Meine Mutter war es auch, die mir bei Kriegsausbruch gesagt hat, dass ich gehen muss. „Ich kann eins meiner Kinder retten“, sagte sie. Und dann gab sie mir ein kleine Kette mit einem silbernen Kreuz. Als ich ging, hatte ich die Kleidung, die ich am Körper trug, meine Handtasche – und dieses silberne Kreuz.
Haben Sie noch Kontakt zu früheren Kollegen oder Schülern?
Ja. Fast alle meiner früheren Kollegen sind noch in Kiew. Sie stellen mir viele Fragen über meine Arbeit in Deutschland, über das Schulsystem, pädagogische Konzepte. Und sie machen noch ihre Arbeit. Oft heißt das, dass sie per Video unterrichten, weil die Kinder zu Hause bleiben oder in die Bunker gehen müssen. Ich habe in Kiew eine 9. Klasse unterrichtet, 26 Schüler. Zum Glück sind sie alle noch am Leben. Einige sind in Kiew geblieben, andere sind in andere Teile der Ukraine gegangen. An Orte, von denen ihre Eltern hoffen, dass sie sicherer sind. Aber leider gibt es keine sicheren Orte mehr in der Ukraine.
Norderstedt: Die ukrainischen Kinder machen keine großen Pläne
Wie sehen Ihre Schüler in Norderstedt ihre Zukunft? Möchten sie in Deutschland bleiben, oder würden sie lieber gerne in die Ukraine zurückkehren?
Wir haben erst vor Kurzem darüber gesprochen. Vier Kinder haben gesagt, dass sie gerne hierbleiben möchten. Der Rest will lieber zurück. Aber die große Frage ist natürlich, wann das möglich sein wird. Generell haben diese Kinder und Teenager keine Pläne für ihre Zukunft. Eine Schülerin sagte mir, vor dem Krieg hatte sie den Wunsch, an der Universität zu studieren. Jetzt weiß sie einfach nicht mehr, was sie nach der Schule tun soll. Eine andere hatte früher vorgehabt, Gitarre zu lernen. Jetzt hat sie keine Pläne mehr.
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Und Sie, Frau Mikulska? Was denken Sie über Ihre Zukunft?
Ich fühle mich auch so. Ich habe Pläne von Montag bis Freitag. Aber das ist es. Eines Tages würde ich gerne in die Ukraine zurückkehren. Denn da ist meine Familie, da sind meine Freunde. Aber im Moment kann ich meiner Familie am besten helfen, wenn ich hier bin. Dieser schreckliche Krieg muss einfach aufhören. Und wenn er erst einmal endet, ist mein Land immer noch eine Ruinenlandschaft, mit traumatisierten Bewohnern. Die Ukraine wird sehr lange brauchen, um sich davon zu erholen. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum diese Dinge passieren. Wir haben Russland nie etwas getan. Warum können wir nicht einfach so leben, wie wir leben möchten?