Norderstedt. Warum „Die Waagschale“ in Norderstedt schon nach einem Jahr um die Existenz bangt – und welche Frist sich die Gründer gesetzt haben.
Norderstedts erster Unverpackt-Laden steht ein Jahr nach seiner Eröffnung schon wieder vor dem Aus. Vor genau einem Jahr, am 5. Juni, haben die beiden Gründerinnen Kathrin Kahnert und Nadia Mispelbaum die „Waagschale“ an der Ulzburger Straße in Norderstedt eröffnet, in dem Nudeln, Reis, Haferflocken, Shampoo und Waschmittel ohne Verpackungen eingekauft werden können. Doch jetzt bleiben die Kundinnen und Kunden einfach aus.
Momentaufnahme an einem Werktag, kurz nach zehn Uhr. Kathrin Kahnert und Nadia Mispelbaum haben seit einer Stunde geöffnet - doch bisher war noch kein Kunde im Laden. Gegen 10.15 Uhr betritt die erste Kundin den Laden, knapp eine halbe Stunde später die nächste. Bis zum Mittag kommt nur eine Handvoll Menschen zum Einkauf. Zu wenig!
Norderstedt: Unverpackt-Laden kämpft um Existenz
„Es gibt Tage, da kommen wir gerade mal auf 20 Kunden am Tag - so viele, wie der Edeka in einer halben Stunde hat“, sagt Kathrin Kahnert. „Der Start des Ladens war super, wir hatten innerhalb kürzester Zeit viele Stammkundinnen. Bereits vor Weihnachten hatten wir unser Ziel im Businessplan für 2021 erreicht.“ Doch dann sind die Kundenzahlen eingebrochen.
Seit März haben sie etwa ein Drittel weniger Kunden als sonst – dabei müssten die Zahlen laut Businessplan eigentlich steigen. Sie hatten kalkuliert, dass sie mindestens 75 Kunden am Tag haben – jetzt sind es manchmal nur 20 bis 25. „Es ist, als ob jemand den Schalter umgelegt hat“, sagt Nadia Mispelbaum und sucht nach einem Erklärungsversuch: „Es scheint, als ob der Krieg in der Ukraine das Thema Umweltschutz erst einmal verdrängt hat.“
Sie haben es von den Kunden gehört, und merken es selbst: Der Krieg, die Angst, überschattet alles. Die Menschen haben plötzlich andere Probleme und Sorgen als Verpackungsmüll. Sogar eine Stammkundin hat neulich ziemlich frustriert gesagt, dass sie alles tut, um die Erde zu retten – und Putin dann womöglich eine Bombe wirft und alles zerstört. Nadia kann sich noch genau an den Tag erinnern, als Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Es war ihr Geburtstag.
Letzte Frist für Norderstedter Unverpackt-Laden geht bis Herbst
Die Gründerinnen wissen, dass der Krieg nicht das einzige Problem ist. Auch die Corona-Pandemie sowie die gestiegenen Preise sorgen für Verunsicherung bei den Kunden und führen zu einem veränderten Kaufverhalten. „Man hat den Eindruck, dass die Menschen vor allem günstig und schnell einkaufen wollen“, sagt Nadia Mispelbaum. Früher seien die Menschen in mehreren Geschäften einkaufen gegangen, heute erledigten viele ihren gesamten Einkauf in einem Laden, um die Kontakt zu reduzieren.
Nadia Mispelbaum hat vor der Gründung ihres eigenen Ladens bei Stückgut in Ottensen gearbeitet und erlebt, wie die Menschen Sonnabends Schlange vor dem Geschäft standen, um drinnen Einkaufen zu können. Alles passe! Auch Stückgut kämpft um die Existenz. Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert haben lange mit sich gerungen, ob sie sich an die Öffentlichkeit wenden sollen, ob sie sagen sollen, wie es wirklich aussieht. Jetzt haben sie keine andere Möglichkeit mehr.
„Wenn die Zahl der Kunden nicht bald deutlich ansteigt, müssen wir Konsequenzen ziehen“, sagt Kathrin Kahnert. „Dann kann es sein, dass wir im Herbst schließen müssen.“ Sie haben bereits eine Unternehmensberatung eingeschaltet, um einen Weg aus der Krise zu finden, doch die Angst, den Laden aufgeben zu müssen, ist groß.
Unverpackt-Läden in ganz Deutschland kämpfen um ihr Dasein
Denn die Krise trifft die gesamte Branche, in ganz Deutschland kämpfen Unverpackt-Läden um ihre Existenz oder mussten bereits schließen. Den Unverpackt Verband mit 350 Mitgliedern erreicht derzeit eine Kündigungswelle. Es heißt, dass teilweise bis zu zwei Läden schließen – jede Woche. Selbst in Hamburg, wo die so genannte Zero-Waste-Bewegung seit Jahren boomt, haben bereits Geschäfte in Bramfeld und Niendorf aufgegeben. „Da es der ganze Branche schlecht geht, gibt es anscheinend nichts, was man tun kann – es ist ein gesellschaftliches Gesamtproblem“ sagt Kathrin Kahnert. Sie wollen nicht anklagen, sich nicht entmutigen lassen. Das haben sie sich vorgenommen. Aber es fällt von Tag zu Tag schwerer.
In den letzten Wochen haben sie alles unternommen, um neue Kunden zu gewinnen. Sie haben Aktionen wie den Kleidertausch gestartet, ihr Sortiment erweitert, Workshops angeboten und mehr als 1000 Flyer in der Nachbarschaft verteilt, mit denen Neukunden einen Rabatt bekommen. Ohne Erfolg. Auch wenn ihre Stammkunden begeistert von ihrem Engagement sind – die dringend benötigten neuen Kunden haben sie damit nicht erreicht. Von 1000 Rabattcoupons wurde nur einer eingelöst. Und nicht nur das: Früher hatten sie an die 1000 Kunden im Monat, jetzt sind es nur 600 oder 700.
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Um auf ihre bedrohliche Lage aufmerksam zu machen, haben sich die Gründerinnen mit den Hamburger Unverpackt Läden zusammengetan und über die sozialen Netzwerke an ihre Kunden gewand. „Wir wollen aber unbedingt weiter machen und wollen zusammen mit Euch die Welt ein bisschen plastikfreier gestalten. Aber das geht nur mit Euch! OHNE EUCH SCHAFFEN WIR DAS NICHT! Wir brauchen Euch. JETZT!“, steht in dem dramatischen Appell der Aktion #supportyourlocalunverpacktladen.
Montags bleibt der Unverpackt-Laden künftig geschlossen
Die beiden wollen nicht aufgeben, sie wollen neue Ideen umsetzen. Doch dafür brauchen sie Zeit und die nehmen sie sich jetzt: Montags bleibt „die Waagschale“ geschlossen. In der Zeit wollen sich die Gründerinnen im Büro treffen, um neue Strategien zu besprechen und neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Auch ihren Stand auf der Messe Trends Norderstedt im Stadtpark hatten die beiden kurzfristig abgesagt. „Ohne zusätzliches Personal war das nicht zu schaffen und dazu fehlt uns im Moment das Geld“, sagt Nadia Mispelbaum.
Norderstedt: „Die Waagschale“ war mehr als Einzelhandelsgeschäft
Als sie vor mehr als einem Jahr nach einem passenden Namen suchten, haben sie sich bewusst für „die Waagschale“ entschieden. Für sie war es mehr als ein Symbol für die Waren, die bei ihnen abgewogen werden. Es war Teil ihrer Lebenseinstellung, ihrer Philosophie. Dass die Umwelt nicht noch mehr aus dem Gleichgewicht geraten darf. Dafür haben sie im vergangenen Jahr gelebt. Der Laden war für sie immer mehr als ein Einzelhandelsgeschäft, mehr als eine Marktlücke. Mehr als ein Job und Geldverdienen. Es war ihre Art, einen Beitrag zu leisten. Etwas zu bewegen und die Welt ein bisschen besser zu machen. Sie haben immer gesagt, dass sie für ihre Mission brennen. Jetzt haben sie das Gefühl, ausgebrannt zu sein.
Sie wollen nicht so klingen, als ob sie sich beklagen oder gar jemanden anklagen. Aber sie wollen deutlich machen, wie ernst es ist. „Wir betreiben das Geschäft nicht zum Spaß, sondern müssen beide davon leben.“ Im Moment liegen sie mehrere Tausend Euro unter dem Mindestumsatz, den sie machen müssen - jeden Monat. 25.000 Euro Eigenkapital haben die Unternehmerinnen bereits in die Finanzierung ihres Herzensprojektes gesteckt und zudem einen Kredit in Höhe von 80.000 Euro aufgenommen. Ab nächsten Jahr muss dieser zurückgezahlt werden. Auch, wenn der Laden dann bereits dicht machen musste. Aber das wollen sie sich nicht vorstellen. Keine von ihnen hat einen Plan B!