Norderstedt. Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert wollen ein Geschäft für unverpackte Waren eröffnen. Das Abendblatt begleitet die Gründerinnen.
Nur 25 Minuten. Noch nicht einmal eine halbe Stunde dauert das Gespräch, das ihr Leben verändert. Auch wenn sie das in dem Moment selbst noch nicht ahnt. Kathrin Kahnert ruft aus dem Auto an, nach der Arbeit, auf dem Weg von der Firma zur Schule ihrer Kinder, die sie abholen muss. Knapp 30 Minuten dauert die Fahrt von der Ericusspitze in der HafenCity bis zur Grundschule Immenhorst am Glashütter Damm. Sonst hört sie in der Zeit Radio.
Knapp 40 Kilometer entfernt, im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses in Kisdorf, läuft Nadia Mispelbaum aufgeregt hin und her, das Handy ans Ohr gedrückt. Seit ihr Fairphone um 14.05 Uhr geklingelt hat, überschlagen sich ihre Gedanken. Kann das wirklich sein? Dass sie jemanden gefunden hat, mit dem sie ihren Traum verwirklichen kann? Sie hat Herzklopfen.
Der Tag, an dem sich die Wege von Nadia (37) und Kathrin (40) kreuzen, ist ein Dienstag im Oktober 2020. Der 22. Die beiden Frauen kennen sich bis zu dem Tag nicht, führen jede ihr eigenes Leben. Nadia in Kisdorf, Kathrin in Norderstedt. 14 Kilometer voneinander entfernt. Doch sie verbindet ein gemeinsamer Wunsch. Ein Herzensprojekt. Beide möchten einen Unverpackt-Laden eröffnen – ein Geschäft, in dem Waren ohne Einwegverpackungen verkauft werden. In denen man nachhaltig einkaufen und etwas für die Umwelt tun kann.
2007 wurde der erste „Unpackaged“-Shop in London eröffnet
Es klingt ein bisschen wie die Rückkehr zum Tante-Emma-Laden. Was früher normal war, erscheint heute in Zeiten von Einwegverpackungen nahezu revolutionär: Waren, die lose verkauft werden. Reis, Nudeln und Müsli in großen Spendern, sogenannten Bins, aus denen die benötigte Menge in ein mitgebrachtes Gefäß eingefüllt, abgewogen und gekauft wird.
Es ist die Renaissance eines Prinzips, das lange als überholt und altmodisch verschrieen war. Erst mit Beginn des 21. Jahrhunderts änderte sich das langsam. Im Jahr 2007 wurde der erste „Unpackaged“-Shop in London eröffnet, 2014 die ersten Läden in Deutschland. Als vier Jahre später hierzulande der Unverpackt-Verband entstand, hatte er 22 Mitglieder. Heute, drei Jahre später, sind es 366. Weitere 288 Unverpackt-Geschäfte sind gerade in Planung. Einer davon in Norderstedt. Von Kathrin Kahnert und Nadia Mispelbaum.
Ihre Geschichten, ihre Intention, ähneln sich: Seit sie Mütter geworden sind, haben sie einen anderen Blick auf die Welt. Sie beschäftigen sich mit Klimawandel und Umweltschutz, lesen viel über gesunde Ernährung und probieren, Müll zu vermeiden. Doch dabei stoßen sie immer wieder an ihre Grenzen. Vor allem beim Einkaufen. Keine von ihnen hat in der Nähe eine Möglichkeit, unverpackte Waren einzukaufen. Keine von ihnen will kilometerweit mit dem Auto zu einem entsprechenden Laden fahren müssen. Und keine von ihnen will die Situation hinnehmen, stillschweigend akzeptieren – sondern etwas daran ändern. Verbessern. Daher planen beide die Gründung eines Unverpackt-Ladens. Unabhängig voneinander.
Dann kommt Corona – und das Gefühl, dass es Zeit für eine Veränderung ist
Manchmal muss eine Idee reifen wie ein guter Wein. Bei Nadia Mispelbaum hat es fast vier Jahre gedauert, bis aus einer Idee ein Plan wurde. Und aus einem Plan ein Vorhaben. Bereits 2017, als sie noch Controllerin bei einer IT-Firma war und von Kisdorf nach Kiel pendelte, träumte sie von der Selbstständigkeit. Sogar zu einem Seminar für Existenzgründer meldete sie sich damals an – für Gründer von Unverpackt-Läden bei Marie Delaperrière, der Inhaberin des ersten Unverpackt-Ladens in Deutschland.
Doch dann kam alles anders. Heute sagt sie, dass es Schicksal war. Schicksal, dass sie bei einem Einkauf bei „Stückgut“ in Ottensen mit der Inhaberin Insa Dehne ins Gespräch kommt – und sich auf Anhieb mit ihr versteht. Dass sie aus einem Impuls heraus fragt, ob sie sich bei „Stückgut“ bewerben kann. Und es dann auch macht. Auch wenn es nicht ihr eigener Laden ist – sie hat das Gefühl, aktiv etwas beitragen zu können, verändern zu können – und nicht nur zuschauen zu müssen. Drei Jahre arbeitet sie bei „Stückgut“, fährt täglich mit der AKN von Kisdorf nach Ottensen. Dann kommt Corona – und das Gefühl, dass es Zeit für eine Veränderung ist. Zeit, ihren einstigen Traum zu verwirklichen. Ihren eigenen Weg zu gehen – und einen eigenen Laden zu gründen. Doch für einen allein scheint das Projekt, das Risiko, zu groß zu sein. In den vergangenen Jahren hat sie immer wieder versucht, andere von ihrer Vision zu überzeugen. Vergeblich! Bis jetzt.
Diese Geschichte hätte auch mit einem kleinen grünen Fähnchen beginnen können. Ein Fähnchen, das Nadia Mispelbaum bei ihrer Recherche im Internet auf der Seite des Unverpackt-Verbandes entdeckte. Es zeigt ein Gründungsvorhaben in Norderstedt an. Es zeigt Nadia den Weg zu einer Gleichgesinnten. Zu Kathrin Kahnert. Kathrin, die von ihren zehnjährigen Zwillings-Töchtern ermahnt wurde, dass die Familie mehr für die Müllvermeidung tun müsse. Die wochenlang recherchierte und nach einer Möglichkeit suchte, umweltbewusst einkaufen zu gehen. Und die schließlich entschied, dann eben selbst einen Laden zu eröffnen. Das war erst vor ein paar Monaten. Im Sommer 2020. Wenig später markiert sie ihr Gründungsvorhaben auf der Unverpackt-Verbandsseite im Internet. Mit einem grünen Fähnchen.
Bereits im Juni wollen sie ihren Laden eröffnen
Noch nicht einmal vier Monate ist es her, dass dieses Fähnchen die beiden zusammenführte. Dass Nadia Kathrin eine Mail schrieb – und Kathrin Nadia anrief. Dass aus Fremden Freunde wurden – und aus einem vagen Wunsch ein konkreter Plan. Bereits im Juni wollen sie ihren Laden eröffnen. Manchmal wundern sie sich heute selbst darüber, wie schnell plötzlich alles ging. Nach dem ersten Telefonat, gerade mal 25 Minuten lang, und dem persönlichen Kennenlernen ein paar Tage später, bei dem immer klarer wurde, was sich bereits am Telefon abgezeichnet hatte. Sie ergänzen sich perfekt.
Nadia, die drei Jahre lang Erfahrungen im Unverpackt-Laden gesammelt hat, Sortiment und Lieferanten kennt. Und Kathrin, die Groß- und Außenhandelskauffrau, die bereits eine großangelegte Umfrage mit 500 Teilnehmern durchgeführt und einen Businessplan erarbeitet hatte. Nadia, die manchmal Angst hat, zu krass rüberzukommen, zu radikal zu wirken, weil ihr das Thema so sehr am Herzen liegt. Und Kathrin, die selbst noch ein Neuling auf dem Gebiet ist und vielleicht noch mehr Verständnis für die Fragen und Fehler von Anfängern hat.
Zu Weihnachten hat Kathrin Nadia eine Waage geschenkt. So ein uraltes Ding mit zwei Waagschalen und kleinen Gewichten. In Anlehnung an den Namen, den sie ihrem Laden geben wollen: „Die Waagschale“. Doch die Waage ist nicht nur ein Firmenlogo. Sie symbolisiert auch ihr Miteinander. Was dem einen fehlt, das bringt der andere mit. Was der eine zu viel hat, hat der andere zu wenig. Alleine würde jeder von ihnen für ein Ungleichgewicht der Waagschalen sorgen. Nur gemeinsam schaffen sie den Ausgleich – und das Gleichgewicht.
Es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht erklären. Gefühle zum Beispiel. Das Gefühl, zusammen zu passen, zusammen zu gehören – auch wenn man sich gerade erst kennengelernt hat. Auch wenn andere das nicht verstehen können, vielleicht als romantisch und naiv abtun, genauso fühlen sich Nadia und Kathrin. Egal, was andere darüber denken. Sie haben das Gefühl, angekommen zu sein – auch wenn der Laden erst in ein paar Monaten eröffnet.
Klingt viel, nach ewig viel Zeit. Ist es aber nicht. Denn das haben sie in den letzten Wochen gelernt: Zeit ist ein Mysterium – vor allem bei der Unternehmensgründung. Mal erscheinen einem Monate wie im Zeitraffer als Tage, weil zu viel gleichzeitig zu tun ist. Weil sie parallel an der Rentabilitätsvorschau und Liquiditätsplanung arbeiten, Kontakt zu den Wirtschaftssenioren und der IHK aufnehmen, Ausschau nach leerstehenden Ladenflächen halten.
Dann wiederum kommen einem Tage wie Monate vor. Zum Beispiel, wenn man auf den Bescheid der Bank wartet. Über die Haspa haben sie einen Kredit bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beantragt. 80.000 Euro. Etwa 20.000 mehr als geplant. „In den Gesprächen mit der Bank haben wir gemerkt, dass wir zu knapp kalkuliert haben“, sagt Kathrin Kahnert. Zusammen mit Nadia Mispelbaum steckt sie noch einmal 25.000 Euro Eigenkapital in das Unternehmen. Hälfte-Hälfte. Das gilt für die Kosten, das gilt für ihre Firmenanteile.
Sie träumen von Fahrrad-Lieferservice und Snackboxen in Gläsern
Was wäre wenn – diese Frage stellen sie sich immer wieder. Müssen sie sich stellen. Nur so können sie planen. Was wäre, wenn pro Tag 20 Kunden kommen? Was wäre bei 30 oder 40? Wie viel muss jeder Kunde einkaufen, damit der Laden läuft? Werden sie irgendwann davon leben können? Und wann wird das sein? So viele Fragen, aber keine Antworten. Nur Vermutungen. Und die Gewissheit: Dass es um mehr geht, als ein wirtschaftliches Unternehmen aufzubauen. Es geht darum, die Wende einzuleiten. Die Leute zum Umdenken zu bewegen. „Damit wir eine Welt hinterlassen, die nicht vermüllt ist“, sagt Nadia.
Sie haben noch viel vor: Träumen von einem Fahrrad-Lieferservice und Snackboxen in Gläsern für Firmen. Und von Seminaren, die sie geben möchten. Sobald der Laden läuft. In zwei Jahren müssen sie den Kredit zurückzahlen – so lange wird die Tilgung ausgesetzt. Bis dahin muss sich der Laden rentieren. Was das heißt, das können sie im Moment nur schätzen. Denn noch wissen sie nicht, wie hoch die Miete sein wird und welche Kosten auf sie zukommen. Kosten für Strom, Heizung und Wasser. Für das Kassensystem und Mitarbeiter.
Das meiste wollen sie selbst machen, aber ob sie alles allein schaffen, können sie jetzt noch nicht absehen. Erste Zahlen haben sie bei einem Seminar für Existenzgründer und anderen Unverpackt-Inhabern an die Hand bekommen. In der Branche unterstützen sich die Betreiber der Läden, Konkurrenz untereinander gibt es nicht. „Jeder von uns will den Gedanken vorantreiben – und hilft daher anderen, die das ebenfalls tun“, sagt Nadia, die bei der Gründung viel Hilfe von ihren ehemaligen Chefinnen Insa Dehne und Sonja Schelbach von „Stückgut“ bekommen hat.
Die Gründerinnen schätzen, dass im Sommer 40 bis 50 Kunden täglich in den Laden kommen, im Winter bis zu 80. Und im nächsten Jahr 100. So die Hoffnung. Denn ob der Laden so gut läuft wie in Ottensen oder der Rindermarkthalle an der Feldstraße in Hamburg? Das können sie sich nur wünschen. Eine Garantie gibt es nicht, nie. Nur das Gefühl, das Richtige zu tun. Aus diesem Grund haben beide bereits ihre Jobs gekündigt, ihr festes Einkommen aufgegeben – und Sicherheit.
Doch es wird sich lohnen, da sind sie sich sicher. Nächste Woche wird die GmbH gegründet, dann können sie endlich den Laden anmieten. Ein passendes Objekt haben sie bereits gefunden.