Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert haben Norderstedts ersten Unverpackt-Laden eröffnet. Für 2022 haben sie viel vor.

Wenn sie im Laden sind, merken sie es meistens gar nicht. Wenn sie Regale einräumen, Kunden beraten oder Ware abwiegen, stimmt alles. Dann sind sie glücklich, manchmal wie im Rausch. Flow nennen Forscher das als beglückend erlebte Gefühl, vollkommen in einer Tätigkeit aufzugehen.

Der Laden ist wie eine eigenen Welt, mit eigenen Regeln. Die Zeit verliert ihre Bedeutung, Hunger und Durst sind ausgeschaltet, Müdigkeit gibt es nicht. Wenn sie im Laden sind.

Meistens merken sie erst zu Hause, wie erschöpft sie sind, wie anstrengend die vergangenen Wochen waren, die ganze letzte Zeit. Vor mehr als einem Jahr haben sie mit der Planung zu Norderstedts erstem Unverpackt-Laden begonnen, im Sommer wurde „Die Waagschale“ an der Ulzburger Straße eröffnet. Seitdem arbeiten die beiden Existenzgründerinnen manchmal sechs, oft aber sieben Tage die Woche. Auch wenn sie sich im Laden inzwischen abwechseln und nur noch einer von ihnen vor Ort ist – frei hat die andere dann nicht. Zu Hause erledigen sie all das, wozu sie im Laden nicht kommen. Sie machen die Abrechnung, bereiten die Unterlagen für den Steuerberater vor, ordern Waren oder planen anstehende Projekte.

Die Angst ist groß, dass einer von ihnen mal ausfällt

Früher haben sie mal gedacht, dass sie den Bürokram zwischendurch im Laden machen können, deswegen hatten sie sich im hinteren Bereich extra ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch eingerichtet. Doch inzwischen haben sie gemerkt, dass es während der Öffnungszeiten wenig Möglichkeiten gibt, längere Zeit konzentriert am Stück zu arbeiten. Deswegen machen sie es jetzt vor oder nach ihren Schichten zu Hause. Oft bis spät in die Nacht hinein. „Ich war noch nie so müde wie jetzt“, sagt Nadia Mispelbaum. Nicht, als sie studiert hat oder Mutter wurde, auch nicht, als sie 14 Stunden pro Tag beim Film jobbte. „Aber ich war auch noch nie so glücklich“, sagt sie. Kathrin Kahnert nickt zur Bestätigung, es ergeht ihr ähnlich. Im letzten halben Jahr hat jede von ihnen nur zwei Tage Urlaub gemacht.

Sie bereuen nichts, das sagen sie immer wieder. Aber sie wollen auch ehrlich sein: Dass es so wird, konnten sie sich nicht vorstellen. „Es ist wie mit dem Kinderkriegen: Man meint vorher, es sich vorstellen zu können - und merkt dann, dass es doch komplett anders ist als gedacht“, sagt Kathrin Kahnert. Neulich mussten sie die Waren neu etikettieren, weil im Zuge der Ökozertifizierung weitere Angaben erforderlich waren. 700 Etiketten haben sie neu erstellt, gedruckt – und angebracht. Zig Stunden zusätzliche Arbeit. Dass sie so wie heute zusammen im Laden sind, ist eher selten. Seit sie die Schichten aufteilen, sehen sie sich unter der Woche kaum noch, höchstens kurz beim Schichtwechsel, da der Frühdienst von 7 bis 13 Uhr im Geschäft ist, der Spätdienst aber erst um 13 Uhr anfängt. Auch wenn sie den persönlichen Kontakt vermissen, sie müssen ihre Zeit, ihre Kräfte, gut einteilen.

In den vergangenen Monaten haben sie sich manchmal ganz schön Druck gemacht. Immer wieder war da die Angst, was passiert, wenn einer von ihnen mal ausfällt – und der andere plötzlich allein dasteht. Bis es tatsächlich so gekommen ist. Bis zuerst Kathrin einen Magendarm-Infekt hatte und nicht arbeiten konnte – und dann Nadia mit ihrem Sohn tagelang im Krankenhaus lag, weil er von einem Auto angefahren worden war. „Da haben wir gemerkt, dass es für einen allein nicht zu schaffen ist“, so die Erkenntnis.

Als sie vor einem Jahr den Business Plan machten, haben sie lediglich die Kosten für eine Aushilfe einkalkuliert. Damals dachten sie noch, es so zu schaffen. Jetzt müssen sie umdenken. Es ist eine wichtige Erkenntnis des Gründens, dass Pläne oft von der Realität abweichen.

Viele Kunden haben immer noch Berührungsängste

Für sonnabends haben sie eine Schülerin eingestellt, die sie im täglichen Ladengeschäft unterstützt. Die die Waren auffüllt, die Kasse bedient und die Kunden berät. „Wir merken immer wieder, wie wichtig die Gespräche mit den Leuten sind“, sagt Kathrin Kahnert. Nicht nur im Laden, sondern auch auf einigen Messen, bei denen sie waren. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen immer noch Berührungsängste haben, in den Laden zu kommen und froh sind, uns unkompliziert ansprechen zu können“, so die Erfahrung der Gründerinnen, die immer wieder gefragt werden, ob man mit dem Auto zu ihnen kommen und mit Plastikgefäßen einkaufen dürfe. „Es ist gut zu wissen, dass derlei Fragen anscheinend einige beschäftigen“, sagt Kathrin Kahnert und stellt klar: „Wir freuen uns über jeden Kunden. Es geht nicht darum, von heute auf morgen sein ganzes Leben zu ändern, sondern überhaupt etwas zu tun!“

Als sie mit dieser Mission angetreten sind, wussten sie nicht, wie das Konzept in Norderstedt aufgenommen wird. Ob es genug Kunden gibt, die unverpackt einkaufen wollen. Sie hatten damit gerechnet, dass es ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate, dauern würde, bis der Laden etabliert ist. Sie haben sich geirrt. Das Geschäft lief sofort an – obwohl „Die Waagschale“ kurz vor den Sommerferien eröffnet hatte. „Wir hatten damit gerechnet, dass es ein Sommerloch gibt und wir erst mal nichts zu tun haben, doch das Gegenteil war der Fall. Viele Leute waren neugierig und haben bei uns eingekauft“, erinnern sich die beiden Gründerinnen. Sie sind froh, dass der Start so gut war. Sonst hätten sie danach sicher gezweifelt. Danach, als plötzlich alle wegblieben, sogar viele Stammkunden. Mitte September ging es los, Anfang Oktober wurde es immer schlimmer. „Wir wussten zwar, dass dann Ferien sind, hatten aber vorher keine Vorstellung davon, dass es so krass sein wird“, sagt Nadia Mispelbaum. Richtig unheimlich sei es gewesen, vier oder fünf Wochen lang.

Manchmal wünschten sie sich, mehr im Moment leben zu können. Das Heute genießen zu können, ohne sich so viele Gedanken um das Morgen zu machen. Doch es klappt nicht immer. Weil es immer noch zu viel zu tun gibt, weil erreichte Ziele und jedes umgesetzte Projekt nur Etappensiege sind. „Uns ging es nie nur darum, ein Einzelhandelsgeschäft zu eröffnen“, sagt Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert ergänzt: „Wir möchten auch etwas verändern.“ Aus diesem Grund haben sie anlässlich des World Cleanup Day mit einer Gruppe von Stammkunden rund um den Bahnhof Quickborn Müll gesammelt, aus diesem Grund laden sie Kindergartengruppen und Klassen zu Führungen in den Laden ein. Aus diesem Grund planen sie einen Stammtisch zum Thema Zero Waste und informieren im nächsten Jahr bei „Klasse! Im Grünen“ und der Evangelischen Familienbildungsstätte über das Thema Plastikvermeidung im Alltag.

Pläne für einen Stammtisch und ein Repair Café

Die Eröffnung der Waagschale im Sommer war für sie nicht das Ende ihrer Gründungsgeschichte, sondern erst der Beginn. Je länger sie den Job machen, um so mehr Ideen gibt es. Eine Kleidertauschbörse oder ein Repair Café zum Beispiel. Immer wieder tragen Kunden Vorschläge an sie heran, immer wieder beraten sie sich, diskutieren, verwerfen und entwickeln neue Ideen. „Wir befinden uns permanent im Wandel“, sagt Kathrin Kahnert. Es ist eine Metamorphose, die „Die Waagschale“ erlebt. Das spiegelt sich auch im Sortiment, das sie immer wieder anpassen. Es gibt eine richtige Wunschliste, auf der sie Anregungen von Kunden notieren und soweit wie möglich umsetzen. Shea Butter zum Nachfüllen, Skyr im Pfandglas, Babybalsam, Dominosteine, selbst gekochtes Hundefutter im Pfandglas. Backmischungen, Rezepte zum Nachkochen.

Sie möchten allen gerecht werden, können es aber nicht immer leisten. Das haben sie jetzt eingesehen. Es war ein Lernprozess, an diesen Punkt zu kommen. Sich einzugestehen, dass sie nicht jedes Produkt ständig vorrätig haben können. Auch das bedeutet für sie ökologisches und wirtschaftliches Handeln. „Wir können nicht für einen Beutel Puderzucker eine Bestellung aufgeben – und dutzende von Waren ordern, die wir eigentlich noch nicht brauchen, aber wegen des Mindestbestellwertes dazu nehmen müssten“, so die Erkenntnis der beiden Geschäftsführerinnen.

Sie sind allein für den Laden verantwortlich, aber sie sind nicht allein im Laden. Immer wieder melden sich Menschen bei ihnen, die helfen wollen – freiwillig. „Einige befinden sich im beruflichen Umbruch oder suchen eine neue Herausforderung, andere möchten ein Praktikum machen“, sagt Kathrin Kahnert. Inzwischen bekommen sie so viele Bewerbungen für ein Schülerpraktikum, dass sie einigen absagen mussten. Im Januar beginnt der nächste Praktikant.

Manchmal haben sie das Gefühl, nur noch in Zeitfenstern zu denken. In der nächsten Woche, im nächsten Monat. Sie machen viele Pläne für die Zukunft. Im nächsten Jahr wollen sie ihre Social Media Präsenz ausbauen und die Außenwerbung optimieren. Einige Kunden haben sich beklagt, dass man den Laden von außen nicht richtig wahrnimmt. Sie wissen, dass die Kunden recht haben – mit der Reklame hadern sie selbst. „Wir möchten zwar keine mega Leuchtreklame, weil das nicht zu unserem Konzept passt“, setzt Nadia Mispelbaum an. „Aber auf der anderen Seite müssen wir natürlich erkannt werden“, ergänzt Kathrin Kahnert. Es scheint ein Patt zu sein. Allein kommen sie nicht weiter.

Ein neues Werbekonzept und Kooperationen mit Firmen

Vor ein paar Wochen hat eine Gruppe angehender Werbefachleute sie kontaktiert, die für ihre Abschlussprüfung ein Werbekonzept für einen Kunden erstellen müssen. Sie wollen dafür „Die Waagschale“ nehmen. „Wir hoffen, dass wir dadurch ein paar gute Anregungen bekommen, die wir umsetzen können“, sagt Nadia Mispelbaum.

Sie sind getrieben. Es gibt Tage, da sehen sie nur die Sachen, die noch nicht laufen. Die sie noch schaffen wollen. Die Kooperation mit den Firmen zum Beispiel, für deren Mitarbeiter sie Snacks in Pfandgläsern anbieten wollen. Vor ein paar Wochen war ein Termin bei einem großen Norderstedter Unternehmen angesetzt, er musste kurzfristig wegen Corona abgesagt werden. „In diesen Momenten müssen wir uns immer wieder selbst klarmachen, wie weit wir gekommen sind“, sagen Kahnert und Mispelbaum. Wenn sie dran denken, wo sie vor einem Jahr standen – mit einem halb fertigen Businessplan, ohne Kreditzusage, ohne Mietvertrag. Manchmal können sie es kaum glauben, dass alles geklappt hat, nach den vielen Problemen, die es bei der Gründung gab. „Eigentlich müsste man darüber mal ein Buch schreiben. Einen Ratgeber für Existenzgründer“, sagt Kathrin Kahnert. Damit andere es leichter haben als sie. Mal drüber nachdenken. Vielleicht machen sie das im nächsten Jahr.