Norderstedt. 1982 hatte Andreas Teweleit einen schweren Motorradunfall. „Ich habe mein Schicksal immer sportlich genommen“, sagt der 62-Jährige.
Als die Vinylplatte „Toto IV“ auf der Straße zerschellte, änderte sich das Leben von Andreas Teweleit für immer. Der damals 22-Jährige hatte sich das neue Album der US-Band Toto in einem Musikladen in Hamburg gekauft und auf den Gepäckträger seiner Yamaha XT 500 geschnallt. Er war auf dem Rückweg nach Norderstedt, fuhr die Niendorfer Straße auf seinem Motorrad entlang. Kumpel Nils folgte ihm. Es war der 6. Mai 1982.
Ein Auto kam dem jungen Mann entgegen. Der Fahrer wollte links abbiegen – und übersah Andreas Teweleit auf seinem Motorrad und nahm ihm die Vorfahrt. Dieser versuchte auszuweichen, bretterte den Kantstein hoch – und stürzte schwer. Er knallte so hart auf den Boden, dass er sich den sechsten und siebten Halswirbel brach. „Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen“, sagte er noch an der Unfallstelle.
Nach schwerem Motorradunfall: "Herr Teweleit, Sie werden nie wieder laufen können"
In der Asklepios Klinik Nord-Heidberg kam immer wieder ein Arzt in sein Zimmer und stach ihm mit einer Stecknadel in die Füße. „Merken Sie etwas?“, fragte er. Der Patient schüttelte mit dem Kopf. Bei jedem weiteren Test, bei jedem Stich. Er spürte einfach nichts. Nach zwei Wochen wurde Andreas Teweleit ins Unfallkrankenhaus Boberg verlegt.
Die Hoffnung, je wieder seine Beine fühlen zu können, hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgegeben. Er wollte wieder seinen geliebten Sport machen können. Mit seinen Kumpels in der Herren-Mannschaft des 1. SC Norderstedt Fußball spielen. Teweleit hatte gerade die Hälfte seiner Ausbildung zum Reederei-Kaufmann absolviert, war frisch verliebt. Sein ganzes Leben lag noch vor ihm, es ging doch gerade erst richtig los. „Dann kam der Oberarzt zu mir und sagte: ‚Herr Teweleit, Sie werden nie wieder laufen können‘.“ Er ist rausgegangen – und ich lag da ganz alleine in meinem Zimmer.“
Andreas Teweleit hat vieles unmittelbar nach seinem Motorradunfall vergessen – diesen Moment aber nie. Da wurde ihm klar, dass er für den Rest seines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde.
Andreas Teweleit konnte seine Ausbildung beenden
Wenn er sich an die ersten Wochen nach dem Unglück zurückerinnert, hat er eine Fernsehwerbung von Bacardi besonders prägnant vor Augen. „Der Werbespot spielte in den Tropen, an einem schönen Strand. Alle waren happy, locker und tanzten“, erzählt Teweleit. Der junge Auszubildende lag damals im Krankenbett, von der Brust an gelähmt. „Das wirst du niemals wieder können, ging mir bei den Bildern durch den Kopf. Das war fürchterlich.“
Eines Tages besuchte ihn der Personalchef der Reederei in der Klinik. Kapitän Gräber, wie ihn seine Auszubildenden nannten, trug ein Buch unter dem Arm, das er Teweleit schenkte. Ein Fachbuch über die Geschichte der Reederei. Daran erinnert sich der heute 62-Jährige immer noch. Viel entscheidender war aber die Botschaft, die ihm Kapitän Gräber mitgebracht hatte: „Er hat mir damals gesagt, dass ich meine Ausbildung zu Ende machen darf. Niemand kann sich vorstellen, wie viel Halt mir diese Nachricht gegeben hat. Danach habe ich versucht, mich durchzukämpfen.“
Neun Monate Reha für einen neuen Alltag im Rollstuhl
Neun Monate lang wurde Teweleit in der Reha auf seinen neuen Alltag vorbereitet. Die Therapeuten brachten ihm bei, wie er sich mit dem Rollstuhl fortbewegte. Einen Transfer ins Bett schaffte. Sich anzog. Im Februar 1983 durfte er die Unfallklinik verlassen. Die Zeit war gekommen, das Leben wieder eigenständig zu bestreiten. So gut es eben ging. Der Norderstedter wohnte damals noch bei seinen Eltern in seinem Jugendzimmer. Das Haus in Garstedt war alles andere als barrierefrei. Schon im Eingangsbereich wartete die erste Herausforderung auf den querschnittsgelähmten Andreas Teweleit: Zur Haustür führten fünf Treppenstufen. Wie sollte er da mit dem Rollstuhl hochkommen? „Es gab einen Berg an Problemen, der so gewaltig groß war, dass ich dachte, das packe ich nicht.“
Doch die Eltern unterstützten ihren Sohn unermüdlich. Sie bauten ihr Zuhause behindertengerecht um, ließen die Toilette und das Waschbecken höher hängen, damit Andreas Teweleit mit seinem Rollstuhl darunter fahren konnte. Auch die Dusche wurde befahrbar umgestaltet, ein speziell gefertigtes Bett angeschafft. „Ohne meine Eltern wäre das alles nicht möglich gewesen“, sagt Teweleit. In seinen Worten schwingt immer noch tiefe Dankbarkeit mit. Heute wohnt er direkt neben seinem früheren Elternhaus. Dort wiederum lebt sein Stiefsohn Marco mit seiner Familie.
Teweleit traute sich erst nach Jahren wieder in den Supermarkt
Das Schlimmste für den verunglückten Motorradfahrer war damals, seinen Freunden und Arbeitskollegen zum ersten Mal im Rollstuhl zu begegnen. „Ich bin mit dem Gefühl aus der Klinik entlassen worden, etwas Besonderes zu sein, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Das war damals ein Riesenproblem für mich.“ Teweleit hat Jahre gebraucht, bis er sich das erste Mal getraut hat, alleine in eine Bank zu fahren und Geld abzuheben. Oder im Supermarkt einkaufen zu gehen. „Das hat mich viel Überwindung gekostet. Ich habe mich geschämt – auch wenn das wahrscheinlich Quatsch war.“
Bei der Arbeit hat seine Behinderung nie eine Rolle gespielt. Nach der abgeschlossenen Ausbildung wurde Teweleit in der Hamburger Reederei übernommen und koordinierte von da an die weltweiten Container-Ströme. „Ein ganz toller Beruf. Ich würde ihn immer noch jedem empfehlen“, schwärmt Teweleit. 36 Jahre lang ist er jeden Tag gerne zur Arbeit gefahren. „Den Kollegen war das vielleicht nicht bewusst. Aber die Tatsache, dass ich weiterarbeiten durfte, ist so kostbar – das ist mit Geld gar nicht zu bezahlen.“ Sein Job hat ihm sein verloren gegangenes Selbstbewusstsein zurückgegeben. Er gehörte dazu. Stand nicht am Rand der Gesellschaft. Sondern war integriert. „Beim Thema Inklusion ist das A und O, dass Menschen mit Behinderung in den normalen Arbeitsbetrieb eingegliedert werden“, meint Teweleit.
Eine Aufgabe zu haben, ist wichtig fürs Selbstbewusstsein
In der Reederei hat er sich für Menschen mit Behinderung eingesetzt. Als Schwerbehindertenvertreter saß Teweleit bei Bewerbungsgesprächen mit im Raum – und musste feststellen, wie schwer es gehandicapte Menschen auf dem Arbeitsmarkt haben. Wie ungewollt sie von vielen Firmen sind. „Ich frage mich, warum sich einige Arbeitgeber so schwer tun.“ Teweleit bedauert, dass nicht mehr behinderte Menschen so eine Chance bekommen wie er damals.
In Deutschland müssen Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen mindestens fünf Prozent der Stellen mit schwerbehinderten oder gleichgestellten Personen besetzen. Erfüllen sie diese Quote nicht, müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen. Mit diesem Geld werden Projekte unterstützt, die sich für die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben einsetzen. Dass sich immer noch viele Unternehmen von der Behinderten-Quote freikaufen, anstatt Mitarbeiter mit Handicap einzustellen, findet Andreas Teweleit schade. „Ich würde mir wünschen, dass alle Firmen offener werden. Zu arbeiten und eine Aufgabe zu haben, ist für das Selbstbewusstsein eines behinderten Menschen enorm wichtig.“
Andreas Teweleit: „Das habe ich sportlich genommen"
Inzwischen liegt sein Unfall fast 40 Jahre zurück. Gehadert hat er mit seinem Schicksal nie. „Das habe ich sportlich genommen. Ich habe immer nach vorne geblickt.“ In seinen Händen hat Andreas Teweleit kaum Kraft. Immer noch quälen ihn Schmerzen, die sich von den Beinen bis in den Rücken ziehen. „Das fühlt sich an wie Tausend Nadelstiche“, beschreibt er. Wenn das Wetter wechselt und die Temperaturen stark schwanken, sind die Schmerzen am schwersten zu ertragen.
Lesen Sie hier weitere Teile der Serie "Menschen mit Behinderung":
- Niklas ist Niklas – das ist das einzige, was zählt
- Nach Fehldiagnose: Vom Außenseiter zum Grünen-Politiker
- Valentina hat Trisomie 21 – und René ist ihr Prinz
- "Ich bin Contergan-geschädigt – aber kein Opfer"
Viel Kraft hat den Garstedter ein Gerichtsprozess gekostet, den er fast 16 Jahre lang gegen die Stadt geführt hat. Der Unfallverursacher im Auto war damals ein Mitarbeiter der Stadtwerke Norderstedt – deswegen verklagte Teweleit das städtische Unternehmen. Das Gericht verurteilte die Stadtwerke, dem Rollstuhlfahrer Schmerzensgeld, eine Rente sowie alle materiellen und immateriellen Folgeschäden des Unfalls zu bezahlen. Der Kommunale Schadensausgleich, die Versicherung der Stadt, weigerte sich allerdings, für die Folgeschäden aufzukommen. Teweleits Familie brauchte jedoch dringend Geld, um die Umbaukosten des Hauses annähernd finanzieren zu können und klagte. Inzwischen haben sich die Parteien auf einen Vergleich geeinigt. „Der Fall ging bis vor das Bundessozialgericht. Es war eine fürchterliche Zeit – ich bin nicht zur Ruhe gekommen.“
Der Norderstedter entdeckte das Handbikefahren für sich
Am besten abschalten kann der HSV-Fan, wenn er mit seinem Handbike unterwegs ist. Fast täglich fährt er durch Norderstedts Straßen und Wälder. „Ich bin fast irre geworden, als ich keinen Sport mehr machen konnte“, erzählt er. Teweleit probierte nach seinem Unfall Rollstuhlbasketball aus – aber das lag ihm nicht. Vor zehn Jahren hat er dann das Handbikefahren für sich entdeckt – das Fahrzeug treibt er nur mit seinen Armen an. „Das ist eine Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit – das ist so schön, das ist mit Geld eigentlich gar nicht zu bezahlen.“ Dass seine Frau Ruth und Sohn Marco in sein Leben getreten sind, beschreibt er ebenfalls als „unbezahlbare Entwicklung“. Ruth hat er bei der Arbeit in der Reederei kennengelernt. Sein Job hat in vielerlei Hinsicht Glück in sein Leben gebracht.
Die Musik von Toto hört Andreas Teweleit immer noch gerne. Nach seinem Unfall war er in Hamburg auf vier Konzerten der Band.