Bargteheide. Mit 14 Jahren wurde bei Nils Bollenbach Autismus diagnostiziert. Heute setzt er sich für mehr Inklusion ein.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte Nils Bollenbach ein Interview in der Abendblatt-Redaktion enormer Stress bereitet. Mit einer fremden Person sprechen, dann auch noch über sein Leben, seine Gefühle. Dazu mitten auf dem Norderstedter Rathausplatz für ein Foto posieren, umgeben von zahlreichen Menschen, die auf dem Wochenmarkt herumwuseln.
Autismus: Kinderpsychologin stellte eine Fehldiagnose
„Massenansammlungen, Partys und Small Talk führen – das ist für viele Leute spaßig. Für mich ist es eine Herausforderung“, sagt der 21-Jährige. Jahrelang war er in Therapie. Hat hart an sich gearbeitet, um mit all dem klarzukommen, was für die meisten Menschen völlig normal ist. Bollenbach hat eine Autismus-Spektrum-Störung.
Schon als Baby hat er sich anders verhalten als andere Kinder. Der junge Nils war extrem ehrgeizig. Mit neun Monaten konnte er laufen. Wenn er hingefallen ist, hat er sich selbst geschlagen. Aus Wut über sein Versagen. Mit nackten Füßen wollte er nie den Rasen berühren. Dieses Gefühl hat er gehasst. „Im Freibad konnte mich meine Mutter allein auf der Decke zurücklassen – ich wäre niemals im Leben weggelaufen.“ Er entwickelte eine Essstörung. Hatte Probleme mit Körperkontakt. Seine Mutter hatte schon früh den Verdacht, dass ihr Sohn Autist sein könnte. Die Kinderpsychologin verneinte. Eine Fehldiagnose, die Bollenbach zum Außenseiter machte.
Lehrerin setzte ihn vor Stundenbeginn vor die Tür
„Wenn ich die Autismus-Diagnose früher bekommen hätte, hätte man nicht versucht, mich in das ,normale Bild‘ reinzupressen.“ In der Grundschule musste er in den Pausen oft vor dem Lehrerzimmer warten. „Die Lehrer meinten, man könne mich nicht auf die anderen Kinder loslassen“, erzählt der Bargteheider. Er wäre damals lieber allein im Klassenzimmer geblieben. Er hätte dringend einen Rückzugsort gebraucht. Doch die Lehrkräfte schickten ihn auf den wuseligen Schulhof. „Und hinterher haben sie sich gewundert, warum ich in der nächsten Stunde aufgekratzt war.“ Seine Englischlehrerin hat ihn teilweise schon vor Stundenbeginn vor die Tür gesetzt. Damit er nicht störte. Klassenkameraden luden ihn nie zu Geburtstagen ein.
Nils Bollenbach bekam eine Hauptschulempfehlung. Obwohl er überdurchschnittlich intelligent war. Seine Zeit auf der Gemeinschaftsschule war von Mobbing geprägt. Im Sportunterricht wurde er immer als Letzter gewählt. Der ganze Schulhof beschimpfte ihn als „Schwuchtel“. Er entwickelte Depressionen. „Das war so schlimm, dass ich ein Jahr nicht zur Schule gehen konnte.“ In dieser Zeit, mit 14 Jahren, bekam er endlich seine Diagnose: Bollenbach war Autist.
Plötzlich ließ sich sein Verhalten erklären. Seine Mitmenschen konnten besser auf ihn eingehen. Anstatt auf eine Förderschule kam er auf ein Gymnasium. Bollenbach ist dafür, behinderte Menschen nicht auf Förderschulen zu schicken, sondern sie zu integrieren. Dafür setzt er sich als Grünen-Politiker ein. Dieses Jahr hat er für den Bundestag kandidiert. Im Wahlkampf ist er von Haustür zu Haustür gelaufen, hat Small Talk gemacht. Zwar hat er gegen Bengt Bergt (SPD) verloren – aber fürs Leben gelernt.