Norderstedt. Ihren Freund René hat sie bei den Norderstedter Werkstätten kennengelernt. Beide sind Sportler und seit zehn Jahren ein Paar.
Eigentlich können in all diesen Liedern nur sie beide gemeint sein. René und sie – Valentina. Da ist sich die 30-Jährige sicher. Wenn Vanessa Mai und Helene Fischer von Herzbeben und unendlicher Liebe singen, hat Valentina das Gefühl, dass die genau wissen, wie es in ihr aussieht.
Was sie fühlt und meint – auch wenn sie es selbst nicht so ausdrücken könnte. Wenn Valentina über die Beziehung zu René spricht, vergleicht sie sich gerne mit anderen Liebespaaren. Mit Ladybug und Cat Noah aus der Zeichentrickserie „Miraculous“. Oder mit Aschenputtel und ihrem Prinzen. „René ist mein Prinz“, sagt sie. „Er ist wie ich.“
Valentina und René haben Trisomie 21
René Selent und Valentina Beck haben beide Trisomie 21, das sogenannte Down-Syndrom. Schätzungen zufolge wird derzeit eins von 1000 Neugeborenen mit dem Gendefekt geboren. In Deutschland leben etwa 50.000 Menschen mit Trisomie 21. So die Statistik. René und Valentina sind ein Teil der Statistik, aber sehen sich nicht so. Sie hinterfragen nicht, ob sie anders sind als die meisten anderen Menschen. In ihren Augen sind sie wie alle anderen auch. Mit einem Unterschied vielleicht. Sie sind verliebt. Ganz normal verliebt.
René und Valentina haben sich in den Norderstedter Werkstätten kennengelernt, in denen Menschen mit Behinderung eine Berufsbegleitende Maßnahme machen, arbeiten und leben können. Als sie sich das erste Mal sehen, ist René schon ein paar Jahre dort, Valentina ganz neu. „René hat zu mir gesagt, dass ich die perfekte Frau für ihn bin. Ich habe mich sofort in ihn verliebt“, sagt Valentina. Sie spricht meistens für sie beide, ihr fällt das Reden leichter als ihm.
„Du hältst meine Welt zusammen“ Vanessa Mai: „Ich liebe Dich“ |
Seit mehr als zehn Jahren sind sie jetzt schon ein Paar und „total glücklich“, so Valentina. „René ist sehr cool und ein toller Freund, mein bester Freund.“ Während des Gespräches wirft sie René immer wieder Kusshändchen zu. Manchmal macht ihn das ein bisschen verlegen, meistens lächelt er aber. Er kann seine Gefühle nicht so ausdrücken wie sie. „Ich mag deine Haare“, sagt er plötzlich und fasst sich selbst an den Kopf. Er hat keine Haare mehr. Als er vor ein paar Jahren von Torsten Albig, dem damaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, für seine sportlichen Leistungen geehrt wurde, hat er auf dessen Glatze gezeigt, gegrinst und gesagt: „Wir haben die gleiche Frisur“.
Valentina wohnt bei ihren Eltern, René in einer Wohngruppe
Draußen setzt er meistens eine Baseballcap auf, ist sonst zu kalt auf dem Kopf. Er hat eine von Batman. Er mag starke Typen wie Batman und James Bond. „Fühl mal meine Muskeln“, sagt er und spannt den Bizeps an. Neulich war er im Kino und hat sich den neuen Bond-Film angeguckt. „Mit Popcorn und Cola“, sagt er, das ist wichtig. Ohne Popcorn wäre es kein richtiges Kino. Valentina war nicht mit. Sie wollte lieber basteln, Bügelperlen und so. James Bond mag sie nicht und Popcorn auch nicht. Lieber Chips. Freitags ist bei ihr zu Hause Chipstag. „Da gibt es nach dem Abendessen Chips und Fernsehen“, sagt Valentina. Sie wohnt noch zu Hause bei ihren Eltern, René in einer Wohngruppe.
„Zusammen kann uns beiden nichts passier’n“ Helene Fischer: „Nur mit Dir“ |
Sie sind gerne zusammen, aber es ist für sie nicht leicht zusammenzusein. Wenn sie sich besuchen möchten, muss einer von ihnen immer von den Eltern gebracht und abgeholt werden. Fast 20 Kilometer sind es von Valentinas Zuhause in Norderstedt bis zur René nach Kaltenkirchen. Meistens treffen sie sich bei Valentina, das ist unkomplizierter als in der Wohngruppe.
Keine Treffen mehr in den Pausen – wegen Corona
Früher war es einfacher, da konnten sie sich bei den Norderstedter Werkstätten in den Pausen treffen. Jetzt geht das nicht mehr. Wegen Corona. Jeder muss in seiner Arbeitsgruppe bleiben. René arbeitet in der Tischlerei, Valentina in der Küche. Sie mögen die Arbeit, die Kollegen. Aber sie vermissen einander. Im Flur hängt ein großes Plakat, auf dem die Hygieneregeln in Bildern und Worten erklärt werden. Auf einem Bild sieht man zwei Menschen, die sich küssen. Es ist durchgestrichen. „Das heißt: Küssen verboten“, sagt Valentina und kichert ein bisschen. Dann senkt sie die Stimme. „Aber wir machen das trotzdem – heimlich.“ Sie sind beide geimpft und werden regelmäßig getestet. Wenn sie Feierabend machen, wartet der eine auf den anderen. Keiner von ihnen steigt in den Bus, ohne sich von dem anderen verabschiedet zu haben. Das ist ihr Ritual.
„Ja du bist es, wo ich hingehör'“ Vanessa Mai: „Ich liebe Dich“ |
Als Valentina im Sommer Geburtstag hatte, haben ihre Eltern eine Überraschungsparty organisiert und dazu auch René und seine Mutter eingeladen. René hat ihr ein großes Herz aus roten Rosen geschenkt, das lässt er jedes Jahr für sie im Blumenladen binden. Er schenkt ihr gerne Sachen, am liebsten Herzen. Nur keine Lebkuchenherzen, die schmecken nicht, findet er. Besser sind Herzkissen oder diese Pralinenschachteln von „I Love Milka“ in Herzform. Auch wenn Valentina die Schokolade nicht essen darf, weil sie eine Laktoseintoleranz hat: René kauft sie trotzdem. Mit den Herzen kann er ihr zeigen, wie sehr er sie mag. Gesten fallen ihm leichter als Worte.
Wenn Valentina über René spricht, nennt sie ihn meistens „meinen Freund“, manchmal aber auch „mein Verlobter“. Offiziell sind sie nicht verlobt, aber für sie fühlt es sich so an. Sie weiß, dass René der Mann fürs Leben ist. „Ich liebe Dich“, ruft sie ihm spontan zu, und streckt ihre Hände aus, um ihn zu berühren. Doch sie sitzen zu weit auseinander. Corona.
„Durch Dich bin ich nie ganz allein“ Helene Fischer: „Wir zwei“ |
In ihrem Zimmer hat Valentina viele Bilder von René aufgehängt. „René ist mein Freund“, sagt sie, um das noch mal zu verdeutlichen. Sie ist stolz darauf, einen Freund zu haben. So wie in den Walt-Disney-Filmen, die sie so gerne guckt. „Da geht es auch ganz viel um Liebe“, sagt sie, fasst sich ans Herz und seufzt. Aschenputtel mag sie besonders gerne. Und Yasmin, die aus Aladin. Und Elsa natürlich, die Eiskönigin. „Obwohl“, setzt sie an und stutzt, „Elsa ja gar keinen Mann hat. Die ist alleine.“ Darüber muss sie nachdenken. Irgendwie passt das nicht in das bekannte Schema.
Valentina hat Trisomie 21 und ihren Prinzen gefunden
„René ist mein Prinz“, sagt sie noch mal zur Bestätigung. Doch René schüttelt den Kopf. Ne, ein Prinz will er nicht sein. Das klingt irgendwie nach Märchen und Mädchenkram. Damit will er nichts zu tun haben, genauso wenig wie dieser ganze Bastelkram, den Valentina macht. Das ist nichts für Jungs, meint er. „Ich mag Harry Potter“, sagt er. „Und Playstation. Und Fußball.“ HSV natürlich. Manchmal geht er mit seiner Schwester ins Stadion.
René und Valentina tragen noch ihre Trainingsanzüge, sie haben heute morgen Sport gemacht. Jeden Donnerstag ab 8.30 Uhr trainieren sie mit der Leichtathletik-Gruppe der Norderstedter Werkstätten in der Sporthalle des HSV. „Team Norderstedt“, steht auf ihren T-Shirts. Sie wollen es bis zu den Weltspielen schaffen, zu den Special Olympics für Menschen mit geistiger Behinderung.
„Wenn Du lachst, weiß ich, alles kann gelingen“ Helene Fischer: „Wenn Du lachst“ |
Valentina weiß, dass sie es schaffen kann. Es hat schon mal geklappt, 2019 in Abu Dhabi. Damals wurde sie für die Weltspiele nominiert und hat einen der vier Plätze im Leichtathletik-Team bekommen, die für Deutschland vergeben wurden. „Das war mein Traum“, sagt Valentina. Sie kann sich leicht an die Gefühle erinnern, die sie damals hatte. An das bummernde Herz und die Schmetterlinge im Bauch. An die Aufregung, die Nervosität. Und dieses taumelnde Glück, weil sie gewonnen hat. In welcher Disziplin, muss sie allerdings nachfragen. „Im Weitsprung und 100-Meter- Lauf bist du Vierte geworden. Aber in der 4-mal-100-Meter-Staffel...“, setzt Maike Rotermund an und macht eine Pause, damit Valentina den Satz vervollständigen kann. „Gold! Es war Gold.“
Sportler der Norderstedter Werkstätten bei Weltspielen
Maike Rotermund ist die Trainerin von Valentina und René, sie betreut seit mehr als 37 Jahren die Sportgruppen der Norderstedter Werkstätten. Sie kann jede Medaille und jeden Wettkampf aufzählen, an denen ihre Sportler teilgenommen haben. Landesspiele und Nationale Spiele, Vorweltspiele und Weltspiele – den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung, wo sie gegen Sportler aus der ganzen Welt angetreten sind. Mit dem Bundesadler auf dem Trikot.
Während sie spricht, klopft sich René selbst auf dei Schulter. „Ich bin sehr stolz auf meinen Freund“, sagt Valentina. Sie spricht lieber über ihn, als über sich. Lieber über ihre Zukunft, als die Vergangenheit. Sie weiß, dass es schlimme Zeiten gab. Die Ärzte hätten sie fast aufgegeben. Doch sie hat gekämpft und es geschafft.
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Wenn einer von ihnen bei einem Wettkampf ist, sitzt der andere auf der Tribüne und feuert ihn an. „Gemeinsam sind wir stark“, ist der Schlachtruf ihres Teams. Nach Abu Dhabi konnte René nicht mitkommen. Er hatte sich nicht qualifiziert. Als Valentina zurückgekommen ist, hat er sie am Flughafen abgeholt – zusammen mit dem ganzen Team der Norderstedter Werkstätten. Jeder hatte eine weiße Rose in der Hand. Nur René hatte eine rote. „Das war so romantisch“, sagt Valentina und schlägt sich die Hände vors Gesicht. „Wenn ich daran denke, muss ich weinen.“
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Sie waren schon gemeinsam auf einigen Wettkämpfen, beide von ihnen machen Leichtathletik, Valentina außerdem noch Schneeschuhlaufen und René Floorball.
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Bei den Winterweltspielen in Österreich hat sie in den Schneeschuhen Bronze, Silber und Gold geholt, er mit seinem Team Silber. Jetzt spielt René kein Floorball mehr. Es gibt niemanden, der ihn von Kaltenkirchen nach Norderstedt zum Training bringen kann. „Macht nichts“, sagt René und wedelt mit der Hand durch die Luft. Er hat ja noch die Leichtathletikgruppe – zusammen mit Valentina.
Valentina holte mit Staffel-Team Gold
Vor zwei Jahren, vor Corona, waren sie gemeinsam bei den Landesspielen in Kiel. Valentina hat vorher geübt, mit Spikes zu laufen und beim Weitsprung vom Brett abzuspringen – und nicht aus einer Zone. Vor dem Wettkampf hat sie mit Maike Rotermund den Fuß markiert, mit dem sie starten muss, und die Hand gekennzeichnet, mit der sie das Staffelholz übergeben muss. „Das geht so ...“, sagt Valentina und greift nach der Wasserflasche, um mit ihr die Staffelübergabe nachzuspielen. Bei der 4-mal-100-Meter-Staffel hat ihr Team Gold geholt.
Bei der Siegerehrung ist René von seinem Platz aufgesprungen und nach vorne gelaufen, zu Valentina. Er hat der Moderatorin das Mikrofon aus der Hand genommen und Valentina selbst geehrt. So erzählt es Maike Rotermund. Valentina kann gerade nicht sprechen, sie hat immer einen Kloß im Hals, wenn sie daran denkt.
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Am Sonntag hatte René Geburtstag. Er zeigt mit den Fingern, wie alt er geworden ist. Drei und sechs. 36. Valentina hat ihm ein Parfüm gekauft und zwei Herzen geschenkt. Vom HSV und eins von Milka natürlich. „Weil er ein so süßer Kerl ist“, sagt Valentina. Irgendwann möchte sie René heiraten. Sie hofft, dass es nächstes Jahr einen neuen Film von Frozen, der Eiskönigin, gibt. Und dass Elsa dann einen Mann findet. Das würde sie glücklich machen.