Norderstedt. Andreas von Appen aus Bad Bramstedt musste schon viele Rückschläge erleben. Doch ein guter Rat seines Vaters prägt ihn bis heute.
Es ist schwer, einen Termin zu finden. Er ist ziemlich viel unterwegs. Dienstagnachmittag ist er in einer nahe gelegenen Grundschule und leitet einen Workshop über Hunde, Donnerstag besucht er mit seinem Hund die Bewohner eines Seniorenheims. Der Termin ist wichtig für die alten Menschen, sie warten immer schon auf ihn, den kann er auf keinen Fall schieben.
Während Andreas von Appen nach einem freien Termin sucht, blättert er in seinem Kalender. An einem Tag ist eine Fahrstunde eingetragen, an einem anderen eine Einkaufstour mit der Nachbarin. Und dann sind da noch die Termine, die er gar nicht einträgt, aber berücksichtigen muss. Die Spaziergänge mit seiner Hünding Ticka, dreimal täglich, die Besuche beim Pferd, striegeln, füttern, Reitstunden.
Andreas von Appen ist Contergan-geschädigt
Es gibt Begriffe, die scheinbar untrennbar miteinander verbunden sind. Wörter, die sofort eine Assoziation hervorrufen. Behindert = beeinträchtigt, hilflos. Contergan = Opfer, Schaden.
Andreas von Appen (59) aus Bad Bramstedt bricht mit den Begriffen, mit Bildern, die man im Kopf hat. Er sieht sich nicht als Opfer und will auch nicht als solches wahrgenommen werden. Weil der Begriff für ihn zu sehr nach Passivität klingt. Nach einem Schicksal, das man hinnehmen und nicht beeinflussen kann. Aber das will er nicht.
„Ich bin Contergan-geschädigt, das ist Fakt, daran kann ich nichts ändern. Aber ich kann bestimmen, wie ich damit umgehe“, sagt Andreas von Appen. Sein Vater hat ihn so erzogen. Er wollte nie, dass sein Sohn andere machen lässt, sondern hat ihn unerbittlich angetrieben, alles selbst zu lernen – und zu können. „Er hat immer gesagt: Mach mal selbst, und wenn es nicht geht, versuchst du es noch mal. Und noch mal.“
Der Rollstuhl steht zusammengeklappt unter der Treppe
Das prägt Andreas von Appen bis heute. Wenn er etwas machen möchte, dann macht er es. Und zwar alleine, soweit es geht. Er will selbstständig sein. Selbstbestimmen. Er hat Autofahren gelernt, seinen Tauchschein gemacht, ist Fallschirmgesprungen und hat sich eine Doppelhaushälfte gekauft, zweistöckig, alles anders als behindertengerecht. Als er eingezogen ist, hat er nichts umbauen lassen. Er will keine Sonderausstattung.
Wenn er zu Hause ist, steht sein Rollstuhl zusammengeklappt unter der Treppe, zu Hause braucht er ihn nicht. Er hat gelernt, sich mit den Händen fortzubewegen, zu gehen. Er läuft nicht auf den Handfläche, sondern auf den Knöcheln, das klappt gut. Auf die Weise kann er die zehn Treppenstufen aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock und die Treppe hoch ins Dachgeschoss überwinden.
"Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein."
Richard von Weizsäcker
Auf die Weise kann er sich vom Boden ins Bett hieven, in der Küche auf einen Hocker klettern, um zu kochen, und ins Auto steigen. Seine Hände übernehmen die Aufgabe seiner verkümmerten Beine, auf denen er nicht gehen kann. Seine Hände können viel einstecken, sagt er. Oftmals merkt er es noch nicht mal, wenn er sich schneidet. Sein Körper muss mehr leisten als andere.
Contergan: "Damals harmlos wie ein Zuckerplätzchen"
Als Andreas von Appen geboren wird, an einem verregneten Freitag im Mai 1962, weiß noch niemand, welchen Einfluss eine einzige Tablette auf sein Leben hatte. Eine Tablette, die damals „so harmlos wie ein Zuckerplätzchen“ sein sollte und seiner Mutter gegen die Übelkeit in der Schwangerschaft verordnet worden war. Contergan. Es muss im ersten Drittel der Schwangerschaft, vermutlich im September, Oktober oder gar Anfang November 1961 gewesen sein, als sie das millionenfach verkaufte Beruhigungsmittel nahm.
Den Wirkstoff Thalidomid hatte die Firma Grünthal in Tierversuchen getestet. Vorschriften für die Arzneimittelzulassung gab es damals nicht – ein solches Gesetz trat erst 1978 in Kraft. Am 27. November 1961 musste Conteran vom Markt genommen werden, weil es nach der Einnahme zu einer Häufung von schweren Fehlbildungen oder sogar dem Fehlen von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen führte.
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Die von Appens wissen damals noch nicht, dass auch ihr Sohn betroffen sein wird, es gibt noch keinen Ultraschall oder andere Möglichkeiten der Pränataldiagnostik. Als Andreas geboren wird, weiß niemand, ob er es schafft. Von zehn Contergan-geschädigten Kindern sterben vier bis fünf nach der Geburt.
10.000 Kinder kommen wegen Contergan mit Missbildungen zur Welt
Insgesamt kommen etwa 5000 Kinder in Westdeutschland mit schweren Missbildungen vor allem an Armen und Beinen zur Welt. Weltweit sind es Schätzungen zufolge 10.000. 1970 verpflichtet sich Grünthal im Rahmen eines Vergleichs zu einer Zahlung von 100 Millionen Mark. Bedingung: Die Eltern der geschädigten Kinder verzichten auf weitere Regressforderungen. Seit 1997 ist das Vermögen aufgebraucht. Alle Zahlungen werden seitdem aus dem Bundeshaushalt geleistet. Auch Andreas von Appen erhält finanzielle Unterstützung.
"Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit (...) eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig)."
Definition des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 1958.
Andreas von Appen wächst in einer Zeit auf, als Behinderte noch Missgeburten hießen und Behinderung vor allem als funktionales Defizit in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit und Produktivität einer Person verstanden wird. Seine Eltern gehören zur Kriegsgeneration, sein Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft. Sie haben in einer Zeit gelebt, als etwa 216.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen systematisch ermordet wurden.
Als Kind nimmt er zunächst kaum wahr, dass er anders ist. Dass er sich auf den Händen fortbewegt – die anderen Kinder aber auf den Füßen. Dass er Rollstuhl fährt – die anderen Fahrrad. Der Rollstuhl ist mehr als ein Fortbewegungsmittel, mehr als ein Gefährt. Er ist sein dauerhafter Begleiter, fast ein Gefährte. Er versteht nicht, warum andere denken, er sei an den Rollstuhl gefesselt. Der Rollstuhl schenk ihm Freiheit.
Contergan: 34 mal wurde Andreas von Appen operiert
Früher hat er sich manchmal gefragt, was gewesen wäre wenn … Er weiß, dass sich auch seine Eltern immer wieder diese Frage gestellt haben, dass sie große Schuldgefühle hatten, vor allem seine Mutter, die selbst Hebamme war. Die so viele Babys gesund auf die Welt geholt hatte. Nur ihr eigenes nicht. Meistens hat sie mehr gelitten als er, wenn ihr Sohn nicht mit anderen spielen konnte – oder wieder einmal ins Krankenhaus musste. Wenn sie ihn ins Gipsbett geschnallt und seine Knochen zurechtgebogen haben. 34 mal ist er operiert worden. So steht es in seiner Akte.
Einmal ist er zur gleichen Zeit wie seine Mutter im Krankenhaus, in Barmbek. Sie liegt ein Stockwerk über ihm. Irgendwann nach der Operation schafft er es, die Treppe nach oben zu gelangen. Er ist wahnsinnig stolz darauf. Als er seine Mutter das nächste Mal besuchen will, ist ihr Bett leer. Sie ist gestorben. Blutkrebs. Seine Mutter ist 40, er sieben.
Nach dem Tod der Mutter sollte er in ein Heim
Nach dem Tod der Mutter soll er in ein Heim – meint das Jugendamt. Man glaubt damals nicht, dass der Vater alleine in der Lage ist, ein behindertes Kind großzuziehen. „Eines Tages standen die einfach vor der Tür“, sagt von Appen und erinnert sich, wie die Leute den Kühlschrank kontrolliert und auf der Suche nach Staub mit dem Zeigefinger über die Schränke gewischt haben. Doch es gibt nichts zu beanstanden. „Da wollten sie mich überreden. Sie meinten, ich würde im Heim einen Hund bekommen“, sagt Andreas von Appen und lacht bitter. Unvorstellbar, was damals passiert ist.
"Die Qualität des Lebens für die Behinderten in unserer Gesellschaft ist ein Spiegel der Qualität der Gesellschaft."
Bundesarbeitsminister Walter Arendt, SPD, 1974
Durch das Schicksal der Contergankinder bekommt das Thema Behinderung in Deutschland eine größere Bedeutung. Die Aktion Sorgenkind wird gegründet. Das Geld soll in bessere Bildungsmöglichkeiten investiert werden.
Er wollte nie anders behandelt werden
Andreas von Appen redet lieber über die Gegenwart als über die Vergangenheit. Wenn er über seine Kindheit und Jugend spricht, fasst er Jahre in Minuten, in Stichworten, zusammen. Die Zeit an der Schule Hirtenweg für Kinder mit körperlichen und motorischen Defiziten. Sein Freund mit dem Herzfehler, der jahrelang sein bester Kumpel war, bis sie sich irgendwann aus den Augen verloren haben. Die plötzliche Erkenntnis, dass andere Jungs Freundinnen hatten – er aber zu der Zeit nicht. Und die Träume, die er hat. Er möchte Pilot werden, oder Tierarzt. Damals glaubt er, dass beides unmöglich ist, mit seiner Behinderung. Heute fragt er sich, ob er Tierarzt nicht einfach hätte probieren sollen.
"Im Grunde sind alle Menschen behindert, der Vorzug von uns Behinderten allerdings ist, dass wir es wissen."
Wolfgang Schäuble
Er ist Frührentner, davor hat fast 35 Jahre gearbeitet. Zuerst im Fernmeldeamt der Post, dann bei der Telekom. Sein Vater hatte ihn dort über Kontakte unterbringen können. „Aber ich hab die gleiche Ausbildung gemacht wie alle anderen auch, es gab keinen Behindertenbonus“, sagt Andreas von Appen. Das ist ihm wichtig. Er wollte nie anders behandelt werden. Nie anders sein.
In den ersten Jahren fährt er von Eidelstedt bis in die Osterfeldstraße nach Lokstedt im Rollstuhl. Das geht leichter als mit öffentlichen Verkehrsmitteln. 40 Minuten braucht er für eine Strecke. Wenn er richtig reinhaut, schafft er 25 km/h. Einmal hält ihn die Polizei an und fragt, warum er wie ein Verrückter fährt. Als er sagt, dass er spät dran ist, bringen sie ihn im Streifenwagen zur Arbeit.
Im Winter kommt er nicht mit dem Rollstuhl durch. Der Schnee setzt sich zwischen Greifring und Rädern fest, die Hände rutschen ab. Wenn es schneit, muss er die Bahn nehmen. Im Laufe der Jahre entwickelt er eine Taktik, wie er ohne Hilfe Treppen rauf- und runterkommt: Er steigt aus, faltet den Rollstuhl zusammen und wuchtet erst sich und dann den Rollstuhl hoch – Stufe für Stufe. Fahrstühle gibt nur selten, Hilfe auch nicht. Er hasst Schnee.
"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Artikel 3 des Grundgesetzes, seit 1994
Es fällt ihm schwer, sich an Jahreszahlen zu erinnern, einer Chronologie zu folgen. Seine Erinnerungen sind verschiedenen Themenbereichen zugeordnet. Beruf. Hunde. Frauen. Umzüge.
Er ist oft umgezogen, von Eidelstedt nach Rahlstedt, von Hamburg nach Lüneburg. Von Niedersachsen nach Nordrhein-Westfalen, von NRW nach SH, nach Bad Bramstedt. Viele der Umzüge hingen mit einer Frau zusammen. Er war einmal verheiratet, mit Anfang 20, doch die Ehe hielt nur sieben Jahre. Seine Frau hatte seine Ersparnisse auf den Kopf gehauen und ihn in die Schulden getrieben. Seitdem ist er vorsichtiger, wenn es um Frauen geht – sein Vater hat ihn immer davor gewarnt, zu gutgläubig zu sein. Vor ein paar Jahren wollte er mit einer Freundin zusammenziehen, hatte sogar schon ein Haus für sie eingerichtet. Dann hat sie ihn verlassen.
Andreas von Appen hätte gern eine Familie gegründet
Er hätte gerne eine Familie gegründet, Kinder bekommen. Als vor Jahren eine Freundin von ihm schwanger wurde, dachte er, angekommen zu sein. Doch sie hat „es wegmachen lassen“, wie er es nennt. Er wusste nichts davon.
Heute lebt er allein, aber er ist nicht allein. Er hat Ticka, einen Border Collie. Sie hat nicht nur eine Ausbildung als Assistenzhund gemacht, sondern ist darüber hinaus auch als Therapie- und Besuchshund ausgebildet. Er ist stolz auf Ticka. Seit er in Rente ist, geht er mit Ticka regelmäßig in ein Seniorenheim und besucht die Bewohner. „Hunde können selbst bei dementen Patienten wieder Erinnerungen wecken“, sagt von Appen.
Auf seinem Sofa liegt ein Kissen, bestickt mit den Worten „Tickas Kuschelkissen“. Er kann sich ein Leben ohne Ticka nicht vorstellen. Sie kann für ihn auf Anweisung Gegenstände holen oder ihm in Menschenansammlungen Platz für den Rollstuhl verschaffen. Eigentlich sollte sie als Assistenzhund Zutritt zu Geschäften haben, „doch viele Inhaber gestatten das trotzdem nicht“, ärgert sich von Appen. Er würde Ticka nie vor einem Laden anbinden und draußen alleine lassen.
"Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der (...) oder wegen einer Behinderung zu verhindern oder zu beseitigen."
Paragraf 1 des 2006 verabschiedeten Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG)
Nächstes Jahr wird er 60. Kein Alter, findet er. Er trainiert jeden Tag hart, um fit zu bleiben. Er braucht die Kraft in den Armen, um sich fortbewegen zu können. Seine Gesundheit ist sein höchstes Gut. Vor ein paar Jahren hat er eine Niere verloren. „Noch schlimmer war aber die Sache mit den Armen“, sagt von Appen. Karpaltunnel, beidseitig. Er musste operiert werden, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Plötzlich war alles, was er sich jahrelang antrainiert hatte, nicht mehr möglich. Anziehen, Rasieren, Rollstuhlfahren. Mit einem Arm kaum zu schaffen, so schien es. Doch er hat es trotzdem geschafft, irgendwie.
Er sagt, dass er gut weggekommen ist. Er hat Bilder von anderen sogenannten „Conterganopfern“ gesehen, die weder Arme noch Beine haben. Viele von ihnen sind inzwischen gestorben. Von 5000 Betroffenen leben heute noch nicht einmal mehr 2500.
Mit dem Auto nach Föhr fahren
Er bezeichnet sich als Stehaufmännchen. Er will sich durchbeißen. „Ich will bei Problemen nicht weglaufen, sondern sie bewältigen“, sagt er. Deswegen hat er jetzt Fahrstunden genommen und den Führerschein gemacht – fast 40 Jahre nach dem ersten Anlauf. Damals ist er dreimal durchgefallen. Dieses Mal hat er bestanden. Er hat sich bereits ein Auto gekauft, es steht schon in der Einfahrt. Er will mobiler sein, nicht andere um Hilfe bitten müssen.
Eine seiner ersten Fahrten hat er zum Friedhof gemacht, an das Grab seines Vaters. Da war er seit Jahren nicht. Er wollte dort allein sein. Nächstes Jahr möchte er mit dem Auto nach Föhr fahren, als Kind hat er dort ein paar Jahre gelebt. An stürmischen Tagen hat er immer noch Sehnsucht nach seiner alten Heimat, nach dem Meer. Über seinem Sofa hängt ein Bild von der Insel. Ein Foto auf Leinwand gezogen. Andreas von Appen hat es selbst gemacht.