Henstedt-Ulzburg. Deutschlands größter Waldkindergarten in Henstedt-Ulzburg liegt direkt im Korridor der von Tennet geplanten Ostküstenleitung.
Für Kinder kann die Welt doch so herrlich einfach sein. Energiewende, Stromtrassen, Vorzugskorridore, über solch komplexe Dinge müssen sich die 64 Mädchen und Jungen in Deutschlands größtem Waldkindergarten in Henstedt-Ulzburg keine Gedanken machen. Allen betroffenen Erwachsenen qualmt hingegen seit Wochen der Kopf. Genauer gesagt: Seitdem die „bestmögliche“ Variante der neuen Ostküstenleitung, einer 380-Kilovolt-Stromtrasse aus dem westlichen Kreis Segeberg bis Göhl bei Lübeck, vorgestellt wurde.
Die Präsentation hat große Unruhe und Betriebsamkeit in Henstedt-Ulzburg nach sich gezogen, denn die bestehende 220-kV-Trasse durch Ulzburg-Süd wird favorisiert und soll aufgerüstet werden – dabei hatte die Gemeinde doch eigentlich darauf gesetzt, von größeren Trassen zukünftig ausgenommen zu werden (das Abendblatt berichtete).
Nach jetzigem Stand ist das Gegenteil der Fall. „Wir müssen durch den Engpass irgendwie durch“, sagte vor wenigen Tagen ein weiteres Mal John Karl Herrmann, Referent des vom Bund mit dem Netzausbau beauftragten niederländischen Unternehmens Tennet. Was er meint: Ein Verlauf mitten durch den Staatsforst Rantzau ist zurzeit nach Ansicht des Netzbetreibers ohne Alternative.
Also genau dort entlang, wo die Kinder der Waldkita ihre Vormittage verbringen. „In der ursprünglichen Planung wurde vergessen, unsere Kita zu berücksichtigen. Der Wald wird wie ein Spielplatz behandelt, und der darf überspannt werden“, sagt deren Leiterin und Mitbegründerin Annette Falk-Kibbel, die sich intensiv mit den oftmals für Laien schwer verständlichen Unterlagen auseinandergesetzt hat.
Die Stromleitung würde direkt über den Köpfen der Kinder verlaufen
Für das besondere Konzept der Einrichtung sind die Pläne keine gute Nachricht. Immer um 7 Uhr geht der Frühdienst mit den ersten Kindern in den Wald, ansonsten sind die Gruppen von 8.30 bis 13 Uhr dort, in der Natur wird gefrühstückt, gelesen, gesungen, gebastelt – es ist ein Paradies für die kleinen Abenteurer. Die langen Wartelisten zeugen von der Beliebtheit, freie Plätze gibt es derzeit nicht.
„Wir sind jeden Tag auch mit den Krippenkindern ein bis zwei Stunden draußen, das Wetter hält uns nicht ab – nur bei Sturm gibt es eine Ausnahme. Im Winter vier Stunden draußen, das muss man als Erzieherin gut finden. Und wir müssen flexibel sein, unsere Planungen auch einmal nach dem Wetter richten. Bei Regen können wir ja keine Bücher mitbringen“, so Annette Falk-Kibbel, die sagt: „Für mich ist das der schönste Arbeitsplatz der Welt.“
Dann deutet sie auf die „Zwergenwiese“, neben der „Affengrube“ und dem „Zwergenhügel“ einer von drei Treffpunkten für die Krippen- und Elementargruppen. „Genau dort würde die Stromleitung verlaufen“, sagt die Erzieherin. Natürlich viele Meter über den Köpfen der Kinder, aber das macht es aus ihrer Sicht sowie nach Meinung von Eltern und generell vielen Hen-stedt-Ulzburgern keinen Deut besser.
Falk-Kibbel: „Die Eltern geben ihre Kinder in den Waldkindergarten, weil sie hier eine nachhaltige Umwelterziehung bekommen sollen. Die Kinder haben eine intensive Bindung zur Natur – wie soll ich denen erklären, dass auch nur ein einziger Baum für eine Stromleitung gefällt wird?“
Also wird Aufklärungsarbeit betrieben. Am letzten Freitag gab es erstmals direkt im Wald eine Art Gipfeltreffen mit Bürgermeister Stefan Bauer, Vertretern aller politischer Fraktionen, Tennet-Planer Uwe Herrmann und Staatssekretärin Ingrid Nestle. Annette Falk-Kibbel zeigte den Gästen, wie der Alltag der Kita aussieht und warum diese zwar nicht in ihrer Existenz bedroht, aber eben in ihrer jetzigen Form schützenswert ist. „Den Waldkindergarten würde es auch weiter geben, wenn die Stromleitung kommt. Schlimmstenfalls wäre unser Gebiet aber deutlich eingeschränkt, sodass die Kinder nicht mehr so häufig in den Wald könnten. Es ist doch hier nicht weniger schützenswert, bloß weil im Wald keine seltenen Vögel brüten.“
Vielleicht müssen alle Planungen noch einmal von vorne beginnen
Immerhin: Noch befindet sich Tennet weiterhin in der Feinplanung, weswegen die Bürger von Henstedt-Ulzburg noch einmal auf einer Einwohnerversammlung am Dienstag, 30. Juni (18.30 Uhr, Bürgerhaus), zu Wort kommen sollen. Die Planfeststellungsunterlagen inklusive eines dann endgültig vorgesehenen Korridors werden nicht vor dem zweiten Quartal 2016 fertig sein. Wenn der gesamte Prozess nicht sowieso von vorn beginnen muss. Dann nämlich, wenn der Bundestag einer Empfehlung des Bundesrates folgt und die gesetzlichen Grundlagen für weitere Erdkabel-Pilotprojekte wie etwa im Fall der Ostküstenleitung schafft. Für Tennet wäre dies teurer, für den Waldkindergarten hingegen die wohl einzig akzeptable Lösung.