Prozess beginnt mit Paukenschlag: Die Verteidigung präsentiert einen zweiten, fast deckungsgleichen Fall - den Mord an einer jungen Frau.
Stade. Der 41 Jahre alte Angeklagte sieht jünger aus, als er ist: fescher Kurzhaarschnitt, trendiger Kapuzenpulli, sportliche Figur. Michael B. hatte einen soliden Job als Mess- und Regeltechniker. Er lebt in der beschaulichen Gemeinde Himmelpforten bei Stade, er ist nicht einmal vorbestraft. Jetzt muss sich der Mann mit der Durchschnitts-Vita vor der Jugendkammer des Stader Landgerichts für ein Verbrechen verantworten, das weit außerhalb der Norm und schon 21 Jahre zurückliegt: für den Mord an der 16-jährigen Schülerin Sonja Ady.
Der Prozess begann gestern unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen - und mit einer Überraschung: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen 48-Jährigen, der zurzeit wegen einer ähnlichen Tat in Untersuchungshaft sitzt. Den Antrag der Verteidigung auf eine Unterbrechung der Verhandlung wies das Gericht jedoch zurück. "Der dringende Tatverdacht gegenüber dem Angeklagten entfällt nicht", sagte Richter Berend Appelkamp.
Der 48 Jahre alte Tatverdächtige soll 1981 die 21-jährige Swantje S. aus Neuenkirchen (Kreis Cuxhaven) ermordet haben. "Es gibt sehr viele Parallelen zu unserem Fall", sagte Lars Zimmermann, Anwalt von Michael B. Wie Sonja Ady auch sei Swantje S. an einem 23. August getötet worden. Auch sie war unbekleidet, an Händen und Füßen gefesselt, ihr Körper mit Messerstichen übersät. Zudem habe neben ihrer Kleidung genauso ein Kälberstrick gelegen, wie er bei der Tötung von Ady verwandt worden sei.
Sonja Ady war am 23. August 1987 an einem Feldweg bei Ebersdorf tot aufgefunden worden, nachdem sie zuvor in der Beverner Disco "ta-töff" gefeiert hatte. Bei der Obduktion zählten die Rechtsmediziner 67 Messerstiche und zahlreiche Bisswunden. 21 Jahre blieb das Verbrechen ungelöst - bis die Polizei im Sommer dieses Jahres dem Täter durch verfeinerte DNA-Analysemethoden auf die Spur kam. Einer Speichelprobe konnten DNA-Spuren vom Tatort zugeordnet werden - es war der genetische Fingerabdruck von Michael B. Dass er die Tat begangen habe, könne er nicht ausschließen, erklärte er bei seiner Vernehmung. Er könne sich daran aber auch nicht erinnern. In der Tatnacht soll Michael B. zudem Alkohol und das Rauschgift LSD konsumiert haben.
Die Staatsanwaltschaft ist indes weiterhin von der Alleinschuld Michael B.s überzeugt. "Wir gehen der Cuxhavener Spur nach, um auszuschließen, dass der Fall von 1981 etwas mit dem Fall Ady zu tun hat", sagte der Sprecher der Stader Staatsanwaltschaft, Burkhard Vonnahme. So würde auch DNA-Material abgeglichen werden.
Das Verfahren gilt als "knifflig" - eine Einschätzung, die Staatsanwaltschaft und Verteidigung teilen. Für Anwältin Katrin Bartels ist es "fraglich, wie die Tat rechtlich einzuordnen ist". War es Mord oder Totschlag? Sollte die Jugendstrafkammer einen Totschlag feststellen, käme Michael B. ungeschoren davon, weil die Tat mehr als 20 Jahre zurückliegt und demnach als verjährt gilt. Die Verteidigung setzt ohnehin auf Freispruch. Zimmermann: "Unser Mandant ist unschuldig."
Michael B. schwieg gestern, ohne jede Regung lauschte er den Aussagen der Zeugen - auch seiner eigenen, die er einen Tag nach Adys Tod bei der Polizei gemacht hatte und die gestern im Gerichtssaal verlesen wurde. Damals sagte der Angeklagte aus, Sonja sei eine Disco-Bekanntschaft und "hinter ihm her gewesen". Im Januar 1987 habe er die 16-Jährige im ta-töff in Bevern kennengelernt. Sie hätten auch Sex gehabt, eine Beziehung habe er jedoch nicht gewollt.
Michael B.s Verteidigung, das wurde gestern deutlich, pflegt gegenüber dem Gericht einen recht robusten Tonfall. Zimmermann warf Gericht und Staatsanwaltschaft vor, die Arbeit der Verteidigung durch Versäumnisse zu behindern. So seien Katrin Bartels und er nicht darüber informiert worden, dass Zeugen, die für gestern geladen waren, bereits vor dem Gerichtstermin verstorben seien oder nicht aufgefunden werden konnten.