War der Angeklagte wirklich der Täter? Oder war es ein anderer, der wegen eines ähnlichen Mordes in U-Haft sitzt?
Stade. Auch 21 Jahre nach dem grausamen Tod der Schülerin Sonja A. lässt die Mutter das ungeklärte Schicksal ihrer Tochter nicht los. "Ich habe mir immer gewünscht zu wissen, wer das war", sagte die 57-Jährige weinend im Landgericht Stade. Dort muss sich Michael B. (41) wegen der Bluttat verantworten. Die Schülerin war 1987 nach einem Disco-Besuch in Bremervörde mit mehr als 60 Messerstichen getötet worden.
Die Aussagen von Sonjas Mutter und Stiefvater vor Gericht unterschieden sich stark von denen, die beide vor 21 Jahren bei der Polizei gemacht hatten. An vieles konnten sie sich nach so langer Zeit auch gar nicht mehr erinnern. So schilderte die Mutter beispielsweise eine ganz andere Bekleidung ihrer Tochter am Tattag. Auch hatte sie den Beamten damals erzählt, die 16-Jährige habe schon mehrere Freunde gehabt und bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt. "Das kann ich mir gar nicht vorstellen", sagte sie dagegen gestern. Sie räumte aber auch ein: "Ich habe das, was mit meiner Tochter zusammenhängt, sehr verdrängt." Psychologische Hilfe habe sie nie in Anspruch genommen. "Das habe ich mit mir alleine ausgemacht."
Sonja habe kaum Hobbys außer "Kosmetik und Haare" gehabt, sagte ihre Mutter. Das Verhältnis zu den Eltern sei gut gewesen, sie habe sich auch sehr um ihren kleinen Halbbruder gekümmert. "Sie war so kindlich und so zierlich", beschrieb der Stiefvater die 16-Jährige. Er habe sie immer mit dem Auto zur Disco gebracht, zurück sei sie dann mit einem Taxi gefahren.
Den Angeklagten aus Himmelspforten hatten die Fahnder erst durch das Voranschreiten der Kriminaltechnik über am Tatort sichergestellte DNA-Spuren ermittelt. Er bestreitet den Mord. Und der Mess- und Regeltechniker aus Himmelpforten, der arbeitslos und geschieden ist, der sieben Jahre in Venezuela lebte, ist inzwischen auch nicht mehr der einzige Beschuldigte.
Beim Prozessauftakt am vergangenen Montag hatte die Verteidigung überraschend einen zweiten Verdächtigen benannt. Dieser sitzt zurzeit wegen eines frappierend ähnlichen Verbrechens in Untersuchungshaft. Der 48-jährige Mann soll bereits 1981 Swantje S. (21) aus Neuenkirchen ermordet haben. Ist dessen 27 Jahre zurückliegende Bluttat der rettende Strohhalm für den Angeklagten Michael B.?
Was die Anwälte von Michael B. hellhörig machte, waren die "unglaublichen Parallelen" zwischen den Mordfällen.
Wie bei Michael B. kam die Polizei auch Swantjes mutmaßlichem Mörder aus Hadeln (Kreis Cuxhaven) gerade erst durch den Einsatz neuer DNA-Untersuchungstechniken auf die Spur. Seit drei Monaten wartet er - 27 Jahre nach der Tat - in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg auf die Anklage. Wie im Fall Sonja soll auch der Mörder von Swantje S. mehr als 60-mal auf sein Opfer eingestochen haben. Auch dieses war gefesselt, auch neben dieser Leiche lag ein Kälberstrick.
Beide Frauen starben am gleichen Tag, an einem 23. August, Swantje S. jedoch sechs Jahre vor Sonja - da war der nun in Stade angeklagte Michael B. erst zwölf Jahre alt.
Am Strick, mit dem Sonja A. gefesselt worden war, hatten die Fahnder neben der DNA von Michael B. auch eine Fremdspur sichergestellt. Handelt es sich dabei um genetisches Material von Swantjes Mörder?
Um diese Eventualität auszuschließen, gab der 48-Jährige bereits eine Speichelprobe ab, die jetzt vom Landeskriminalamt untersucht wird.