Am Freitag läuft die “Gorch Fock“ im Kieler Heimathafen ein. Die Marine hat indes Konsequenzen aus dem schweren Unfall auf dem Schiff gezogen.
Kiel. Die Marine zieht konkrete Konsequenzen aus dem tödlichen Unfall auf der "Gorch Fock“ am 7. November 2010, das berichtet die Tageszeitung "Die Welt“ in ihrer Freitagsausgabe. Auf dem Gelände der Marineschule in Flensburg-Mürwik solle möglichst noch in diesem Jahr eine knapp 30 Meter hohe Mastanlage gebaut werden, auf der die Offiziersanwärter das Aufentern in die Takelage von Segelschiffen üben können.
"Wir wollen die kritischen Stellen, die an Bord ohne befestigte Sicherungsleine überwunden werden müssen, möglichst getreu nachbilden“, sagte der Kommandeur der Schule, Flottillenadmiral Thomas Ernst, der Zeitung. Mit so einer Anlage könne man auch viel besser kontrollieren, ob die angehenden Offiziere unter Höhenangst leiden.
Das Segelschulschiff der Marine kommt am Freitag nach achteinhalbmonatiger Ausbildungsreise zurück nach Kiel. Im vergangenen November war eine Kadettin aus der Takelage gestürzt und an ihren Verletzungen gestorben. Flottillenadmiral Ernst sagte der "Welt“, die Bark werde nicht vor Januar 2012 wieder zu einer Ausbildungsreise ablegen. Für den kommenden Jahrgang, der am 1. Juli anfange, seien die Lehrpläne bereits umgestellt worden.
Derzeit befindet sich die "Gorch Fock" vor Strande. Flottillenadmiral Thomas Ernst und Landtagspräsident Torsten Geerdts waren bereits heute an Bord des Schiffes.
Lesen Sie dazu auch "Gorch Fock" kommt in ihren Heimathafen:
Es soll ein Festtag werden, trotz allem. Wenn die "Gorch Fock" morgen in Kiel einläuft, werden Dutzende Schiffe das Segelschulschiff auf den letzten Kilometern in seinen Heimathafen Kiel begleiten. 40 bis 50 größere Boote werden erwartet und unzählige kleine. Auf der Skagen-Route über das Skagerrak und das Kattegat ist die "Gorch Fock" zurückgereist, von der Nord- in die Ostsee gefahren. Wenn das majestätische Segelschiff von Land aus sichtbar ist, wird Jubel ausbrechen. Mehr als 1000 Menschen wollen dabei sein, wenn die "Gorch Fock" um 10 Uhr anlegt. Das Marinemusikkorps Ostsee ist die Festkapelle.
"Das ist ein ganz besonderer Empfang", sagt Ernst Schliemann. Der ehemalige Segelausbilder der Bundesmarine betreibt heute eine Segelschule, er wird seine größten Boote auf die Ostsee schicken, mit Angehörigen an Bord, die der "Gorch Fock" entgegenfahren wollen. Für Schliemann wie für viele andere geht es um mehr, als nur die "Gorch Fock" zu begrüßen. Sie wollen ein Zeichen setzen: "Es darf nicht angehen, dass ein tragischer Unfall und die Kommentare von einigen Kadetten an Bord dazu führen, dass eine jahrzehntelange Tradition zerschlagen wird."
Neun Monate ist es her, dass die "Gorch Fock" Kiel verlassen hat. Damals, im August 2010, ist die Welt noch eine andere: Die Kadettin Sarah Lena S. wird in jenem Monat vereidigt, bei der Feier spricht Bundespräsident Christian Wulff. Der Kommandant der "Gorch Fock", Norbert Schatz, hat ehrgeizige Ziele: Er will als Erster mit dem Schulschiff das Kap Hoorn umrunden. Und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ist zu diesem Zeitpunkt noch der Star der deutschen Politik - für seine Doktorarbeit interessiert sich noch niemand.
Das Unglück passiert im tropischen Paradies, im Hafen von Salvador da Bahia, Brasilien. Am frühen Vormittag des 7. November 2010 müssen die neuen Offiziersanwärter siebenmal auf- und abentern. Sie sind erst drei Tage an Bord, haben wenig geschlafen und Jetlag, denn die Kadetten sind für ihren Ausbildungstörn aus Deutschland eingeflogen worden. Aber sie sollen später die Segel bei Sturm und Dunkelheit setzen und reffen können. Das lernt man nur mit Drill. Gegen 10.30 Uhr ist die Übung plötzlich zu Ende. Der 25-jährigen Kadettin Sarah Lena S. versagen die Kräfte, sie stürzt aus den Wanten 27 Meter in die Tiefe. Im Krankenhaus erliegt sie ihren Verletzungen.
Welches Drama sich nun in der Hitze Brasiliens abspielt, erfährt die Öffentlichkeit erst zwei Monate später. Es kommt zum Streit zwischen Offiziersanwärtern und Schiffsführung. Einige Kadetten wird die Aberkennung der Offizierseignung angedroht. Am 21. Januar 2011 titeln fast alle deutschen Zeitungen "Meuterei auf der 'Gorch Fock'", Auslöser ist ein Bericht des Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus (FDP). Offiziersanwärter erheben darin schwere Vorwürfe gegen ihre Ausbilder und die Stammbesatzung.
Plötzlich ist die "Gorch Fock" nicht mehr die weiße Botschafterin Deutschlands, sondern ein ganz übler Kahn. "George Fuck" wird das Schiff jetzt in einigen Medien genannt, ehemalige Kadetten berichten von sexueller Belästigung, von Alkohol-Exzessen, von Ekelritualen und Dauerdruck durch die Ausbilder. Die Ausbildung der Kadetten wird bis auf Weiteres ausgesetzt.
Salvador da Bahia ist eigentlich für den größten Straßenkarneval Brasiliens bekannt, aber Deutschland spricht nur noch über das Foto, auf dem Soldaten mit roter Perücke und lustigen Hüten zusammensitzen und Karneval feiern - angeblich kurz nach Sarah Lenas Tod. Kommandant Norbert Schatz, der während des Unfalls selbst nicht an Bord ist, wird später mit Sätzen zitiert wie: "Die motorischen Fähigkeiten haben abgenommen, die Jugend sitzt nicht mehr im Kirschbaum, sondern eher vorm Computer." Vorwürfe werden laut, die Schiffsführung habe auf den Unfall unangemessen reagiert. Kadetten hätten das Holz entsorgen müssen, auf das Sarah Lena S. gefallen ist.
Der Verteidigungsminister reagiert: Er entbindet den Kommandanten von seinen Aufgaben, ohne Anhörung. Um ihn zu schützen, wie das Ministerium erklärt. Aber es sieht nach einer eiskalten Abservierung aus. Schatz muss die "Gorch Fock", sein Schiff, verlassen und nach Deutschland zurückkehren. Seitdem wartet er. Und schweigt. Das gebietet ihm seine Loyalität. Er fühlt sich als Opfer der Politik. Der Inspekteur der Marine, Axel Schimpf, beteuert, Schatz sei nach wie vor Kommandant der "Gorch Fock". Schatz dürfte sich nicht als ein solcher fühlen.
Vier Monate später ist zu Guttenberg nicht mehr Verteidigungsminister, seine Doktorarbeit war dann irgendwann doch interessanter als die "Gorch Fock". Kapitän zur See Michael Brühn übernimmt an Bord das Kommando und segelt das Schiff westlich von Südamerika nach Norden und dann durch den Panamakanal nach Hause. Brühn ist zugleich Havariebeauftragter. Ende Mai soll sein Bericht zum Tod von Sarah Lena S. vorliegen. Doch Brühn ist nicht der einzige Ermittler. Vor der Rückreise geht im argentinischen Ushuaia ein Team um Marineamtschef Horst-Dieter Kolletschke an Bord.
Bald darauf präsentiert die Marine ihre Version der Geschehnisse. Viele der Vorwürfe wie etwa "unzulässiger Druck bei der Durchsetzung des Befehls zum Aufentern" ließen sich nicht bestätigen, heißt es in dem als Verschlusssache eingestuften Papier, das dem Abendblatt vorliegt.
Die Vorwürfe etwa zur sexuellen Belästigung beträfen nur Einzelfälle, wird erklärt. Die angebliche Karnevalsfeier sei nur ein Feierabendbier mit Perücke gewesen. Ekelrituale wie die "Neptun-Taufe" hätten nicht in einem mit Erbrochenem und alten Lebensmitteln gefüllten Schlauchboot stattgefunden. Beim Inhalt des Bootes handele es sich um frische Lebensmittel, "wie z. B. Mehl, Cornflakes, Schokolade, Knoblauch, Fisch und Käse". So viel Korrektheit muss offenbar sein.
Das Fazit auf Seite 98 des Berichts: "Als Ergebnis der Untersuchung stellt die Kommission fest, dass die erhobenen Vorwürfe sich zum großen Teil als unhaltbar erwiesen haben. So weit Vorwürfe in Teilen bestätigt werden konnten, besaßen diese hingegen bei Weitem nicht die Qualität, die ihnen ursprünglich beigemessen worden ist."
Also doch alles gut auf der "Gorch Fock" - wegtreten und weitermachen? Nicht so schnell, findet der Wehrbeauftragte Königshaus. Zentrale Vorwürfe wie Druck beim Aufentern seien mitnichten geklärt. Auch die Bundesregierung distanziert sich. Das Verteidigungsministerium will zusätzlich einen eigenen Bericht vorlegen.
Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) soll über die Interpretation der Marine nicht amüsiert sein. Vielleicht stößt er sich an Passagen, die fast satirisch klingen. Wie der Abschnitt "Umgang mit Sexualität", in dem es um eine Wäscheleine im Maschinenraum des Schiffes geht. An der Leine hingen Damenschlüpfer. "Zwar entspricht die Leine nicht den Maßstäben der 'political correctness', stellt aber gerade für die Soldaten der Schiffstechnik ein zusammenhaltsförderndes Element dar, welches in der Abwägung unter Führungsaspekten nicht zu beanstanden ist und als 'Brauchtumsstück' betrachtet werden muss", analysiert die Marine. Die Schiffstechniker hätten die Slips "glaubhaft" über Jahre von Landgängen mitgebracht. Wie an dieser Stelle offenbart der Bericht mehrfach Verständnis für Seefahrerrituale, nährt so aber auch Zweifel, ob es sinnvoll ist, wenn die Marine Vorfälle in der Marine untersucht.
Trotzdem warten nun alle auf den nächsten Marinebericht, den der Havariebeauftragte Michael Brühn vorlegen wird. Unabhängig davon prüft die Staatsanwaltschaft Kiel, ob sie ermitteln muss. "Fakt ist, dass Sarah Lena aufentern musste, obwohl sie erhebliche Kraftlöcher hatte", sagt Thomas Kock, der Anwalt der Mutter. Angelika S. hat Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gestellt. Zum einen gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Verteidigungsministerium. Zum anderen gegen Norbert Schatz. "Ich halte es für fragwürdig, ob es zugelassen ist, die Leute am ersten Tag 30 Meter hochentern zu lassen, ohne Trockenübung, ohne alles", sagt Kock.
Parallel zu den Ermittlungen soll am Montag die Kommission zur zukünftigen Ausgestaltung der Ausbildung auf der "Gorch Fock" ihre Arbeit aufnehmen. Ulrich Kirsch, Vorsitzender des Bundeswehrverbands, hat angeregt, für die Schulung der Kadetten einen "stationären Übungsmast an Land" einzuführen wie bei der italienischen Marine. Für die Stammmannschaft und viele ehemalige Besatzungsmitglieder muss die Aussicht auf Trockenübungen wie ein Hohn klingen.
Die "Gorch Fock" läuft morgen in Kiel ein, aber die großen Fragen bleiben ungeklärt: Was wird aus Norbert Schatz? Wie geht es mit der Ausbildung weiter? War Sarah Lenas Tod ein Unfall oder hat jemand Schuld daran?
In Mails nach Hause klagen Besatzungsmitglieder über die schlechte Stimmung an Bord. Die Vernehmungen, die Ermittlungen gegen Kameraden, die miese Presse schlagen den Soldaten auf das Gemüt. Mancher möchte gar lieber still und heimlich anlegen und nachts von Bord schleichen.
Wie planlos die Beteiligten derzeit sind, macht auch eine Episode aus der Heimatstadt Kiel deutlich. Am Dienstag jubelte Oberbürgermeister Torsten Albig (SPD) noch, die "Gorch Fock" werde bei der Kieler Woche dieses Jahr wieder die Windjammer-Parade anführen. Einen Tag später war ihm die Sache offenbar nicht mehr geheuer. Er ließ seine Mitarbeiter noch einmal bei der Marine anrufen, ob alles klargehe. Von der Marine kam, wie so oft in den letzten Monaten, ein Dementi. (Volker ter Haseborg, Lars-Marten Nagel und Leo Walotek-Scheidegger)