Norderney. Der Ursprung der friesischen Spezialität lag im Kampf gegen die Wikinger. Allein in Ostfriesland gibt es aktuell 50.000 Aktive.

Es soll Spaß machen und doch ist der Nationalsport der Ostfriesen auch knallharter Wettkampfsport: Boßeln. Auf Norderney beginnt jetzt wieder die Saison.

Dann gehört die Straße zum Ostbadestrand „Weiße Düne“ nicht den wenigen Autos auf der Nordseeinsel, sondern dann lassen die Boßelmannschaften jeden Sonnabend ab 14 Uhr dort die Kugeln rollen. Für nicht ganz so Geübte geht Norderney-Urgestein Ernie Schorn regelmäßig auf Boßel-Schnuppertour.

Boßeln: Es fühlt sich an wie kegeln oder bowlen

Lang und weit soll die Kugel, der Kloot, auf der Strecke ausrollen. Ernie Schorn gibt Tipps zur Positionierung. Die Kugel sollte so geworfen werden, dass sie beim Wurf aus der Hand nicht von der Strecke gerät. Es hat etwas von Kegeln oder Bowling. Ernie Schorn ist heute nicht so streng, was die Haltungsnoten angeht.

Dem 76-Jährigen ist es egal, ob die Werferin noch einen Ausfallschritt macht, ob der Werfer ein paar Schritte mit der Boßelkugel mitläuft – wichtig ist ihm aber, dass der Kloot nicht einfach von oben herab geworfen wird, sondern locker von unten aus der Hand. Ein wenig Kraft und noch mehr Geschicklichkeit sind gefragt. Wenn die bis zu 1100 Gramm schwere und zwölf Zentimeter Durchmesser große Kugel dann rollt und rollt, ist das ein Erfolgserlebnis. Überraschenderweise rollt sie tatsächlich recht weit.

Kriegerischer Sport aus der Wikingerzeit

Wir sind an diesem Tag drei Mannschaften. Die Regeln sind ganz einfach: Wer am wenigsten wirft, hat am Ende gewonnen. Schade eigentlich. Denn das Werfen ist der schönste Teil. Es gilt, eine vorher festgelegte Strecke mit einer möglichst geringen Anzahl von Würfen zu durchwerfen. Schnell sind alle mit ziemlich viel Ehrgeiz und Eifer dabei, ohne zu ernst zu werden. Das ist alles Spaß, und das Gemeinschaftserlebnis zählt. Jedenfalls bei dieser Schnuppertour. Das war früher einmal ganz anders.

„Unsere Vorfahren hatten als Waffen Pfeil und Bogen und Speere, und sie haben sich aus Lehm einen Kloß gemacht und den in der Sonne getrocknet und sich damit beschmissen“, erzählt Ernie Schorn den Touristen auf Norderney. Hört sich lustig an, war aber damals aber eine ernste Angelegenheit. Die Lehmkugeln wurden auch bei Kriegen eingesetzt: „Die Holländer sollen sich mit solch getrockneten Lehmklößen gegen die Wikinger gewehrt haben.“

Boßeln ist Volkssport in Ostfriesland

Wenn aber mal ausnahmsweise kein Krieg in den Dörfern herrschte, haben Ernies Vorfahren – auf Norderney wird sich geduzt – Spiele entwickelt. Dann hat Dorf A mit dem Lehmkloß, später waren es Holzkugeln, gegen Dorf B spielerisch gekämpft. „Die haben eine Strecke zwischen den Dörfern quer über die Felder ausgeworfen, und die Kugel hatte einen Bleikern.“ 475 Gramm wog ein solcher Kloot. Der Weltrekord liegt bei 113 Metern. „Das waren besondere Techniken, die kaum jemand kann.“

Boßeln mit Ernie Schorn auf Norderney. Für Inselgäste bietet der 76-Jährige Schnuppertouren an.
Boßeln mit Ernie Schorn auf Norderney. Für Inselgäste bietet der 76-Jährige Schnuppertouren an. © Genevieve Wood | Genevieve Wood

Später hat man das Boßeln entwickelt, als es befestigte Wege gab. „Das ist hier oben ein ganz wichtiger Sport“, sagt Ernie. Etwa 50.000 Leute machen in Ostfriesland im Winterhalbjahr mit – die jüngsten Wettkampfteilnehmer auf Norderney sind 16 Jahre alt, der älteste 76 Jahre alt. Sechs Männer- und zwei Frauenmannschaften gibt es auf der Insel. Wenn nicht gerade im Wettkampfmodus, ist der Boßelsport ein Sport für alle.

Normalerweise kämpfen zwei Mannschaften gegeneinander, aufgeteilt in drei Gruppen jeweils, und jede Gruppe hat fünf Aktive. „Die Rechnung hinterher, wer gewonnen hat, ist dann etwas kompliziert“, sagt Ernie. „Ich mache das noch im Kopf, die jungen Leute brauchen einen Taschenrechner.“ Alle vier Jahren finden Europameisterschaften statt.

Boßeln gibt es auch in Irland und in der Schweiz

Ganze Familien sind beim Boßelsport auf dem Festland unterwegs. „In der ostfriesischen Presse stehen dann auf zwei Doppelseiten die Ergebnisse“, berichtet Ernie. In Dithmarschen, in Holland und in Irland sei das Boßeln ebenfalls verbreitet. „Auch in Italien, der Schweiz und in Polen gibt es den Boßelsport“, so Ernie. Die Kugeln bestehen aus Guyak-Holz und sind mit Blei gefüllt, es gibt auch Kugeln aus Hartgummi.

Dass Boßeln mit Alkoholkonsum einhergeht, dass also nach jedem Wurf Schnaps getrunken wird, kann Ernie nicht bestätigen. Das machen ernsthafte Boßelspieler niemals. Frotzeleien und gegenseitiges Piesacken sind dagegen üblich. Fast jeder Wurf wird mit lautem Jubel begleitet – Boßeln ist kein leiser Sport. Das geht auch gar nicht. Wir jedenfalls sind zu sehr im Ernie Boßelfieber, müssen unseren Eifer lautstark hinausschreien.

Wie die Profis das Boßeln angehen, sehen wir am Ende unserer Tour auf der Straße zwischen Weißer Düne und dem Dorf. Dort trainieren die Norderneyer Mannschaften in roten und blauen Jacken auf der Fahrbahn. Denn ist ja Sonnabend, es ist Boßeltag.

  • Der Aufenthalt auf Norderney wurde unterstützt von INSULAR Ferienapartments und der Reederei Frisia.