Appen. Seit 1982 trifft sich eine Runde im Klövensteen – ihr Gründer ist schon 93. Erster Anbieter organisiert Touren jetzt auch in der Stadt.
„Gut Schöt“ hallt es herzhaft aus 55 Männerkehlen durch den Klövensteen. Dann geht die Boßeltour los – in sechs Stunden fast neun Kilometer über Stock und Stein durch freie Natur. Als Belohnung winken im Heidekrug in Appen-Etz die Siegerehrung, ein riesiges Gebiss als Orden für den Verbissensten und Grünkohl satt mit allen Schikanen. Schwächlinge und Faulpelze haben keine Chance. Hier wie dort. Dass die Gastwirtschaft mit der typisch norddeutschen Kost eigentlich ein griechisches Restaurant ist, passt ins Bild: Bei allem sportlichen Ehrgeiz steht der Spaß im Vordergrund.
Und es gibt Überraschungen. Die vielleicht größte heißt Arthur Wilhelm Hauschildt, 93 Jahre alt, von allen ausschließlich „Adje“ gerufen und 1982 Gründer dieser fidelen Runde. Der gebürtige Altonaer mit Wohnsitz in Osdorf war früher als Schiffbauingenieur im Hamburger Hafen aktiv. Als ihn einst zwei Kollegen aus Bremen zum Boßeln in die Wesermarsch einluden, kam Adje auf den Geschmack. Jetzt am Wochenende traf sich der männliche Freundeskreis im 37. Jahr. Beim Wiederholungsspiel am 13. Februar sind auch die Damen mittenmang. Dann gibt’s den „Madonnenpreis“ – für die schönste Haltung.
Boßeln hält jung
Die meisten kennen sich durch die Segler-Vereinigung Altona-Oevelgönne. Seit sage und hiermit schreibe 90 Jahren ist Herr Hauschildt dort Mitglied. Im Sommer will er wieder mit dem eigenen Schiff auf der Elbe lossegeln. Mit 17 und 18 Jahren sind Paul Körner aus Nienstedten und Yelle Taschendorf aus Volksdorf diesmal die jüngsten Boßler im Bunde.
Adje weiß, wie’s geht. „Boßeln hält jung“, weiß er. Und „Schöt“ heißt Schuss. Er wiegt die rote, rund 600 Gramm schwere Kunststoffkugel mit dem Bleikern in der rechten Hand, nimmt Anlauf und schleudert sie den Kiesweg entlang. Sieht aus wie beim Kegeln. Nun ist die gegnerische Mannschaft an der Reihe. Acht Teams mit je sechs oder sieben Mann sind dabei.
Apfelkorn als Frostschutzmittel
Jede Mannschaft nahm anfangs einen weißen Baumwollbeutel in Empfang, den „Büdel“. Inhalt: Eine Spielkugel, blau oder rot, Putzlappen, wenn Dreck dran ist, Startnummern, Laufzettel – und eine Pulle Apfellikör, intern „Frostschutzmittel“ bezeichnet. Kommt gut bei dem eisigen Wind. Und einer trägt den Kescher. Wenn die Kugel mal im Graben oder in einer tiefen Pfütze landet. Zwischendurch bleibt ausreichend Zeit für einen gepflegten Klönschnack.
Thema immer wieder: das 25. Jubiläum der Runde 2006. Sogar der NDR war dabei, als Gründervater Adje Hauschildt in einer Sänfte durch den Klövensteen getragen wurde. Eine Krone, Zepter, ein Hermelin, eine Schärpe und „König Arthurs Boßelgesetz“ rundeten die unvergessene Zeremonie ab. Selbstverständlich durften Grünkohl und „Frostschutzmittel“ nicht fehlen. „Sportliche Betätigung an frischer Luft und Geselligkeit machen den Reiz aus“, weiß Peter Mendt aus Wedel aus langjähriger Erfahrung.
Wie im Falle Arthur Hauschildt mit seinen Söhnen Jan, einem Schiffsingenieur aus Groß Flottbek und Peter aus Kiel verjüngt der Nachwuchs die gesellige Boßelcrew. Als Organisationschef ist der Schriftsetzer Wolfgang Probst aus Wedel seit einem Dutzend Jahren in der Verantwortung. Er fing 1983 Feuer.
1000 Boßeltouren durch Hamburg
Gemeinsam mit einer Freundin kümmert sich Ehefrau Hilke um die Verpflegung zwischendurch. Dass die Jungs bloß nicht darben und vom Wege abkommen. Nahe der Pony-Waldschänke im Klövensteen hat das Duo zwei Tapeziertische aufgebaut. Es gibt mehr als 100 liebevoll daheim geschmierte Stullen mit Schmalz, Mettwurst und Käse, 16 Liter Glühwein sowie alkoholfreien Punsch. Jeder Teilnehmer muss fünf Euro Beitrag entrichten. Das Essen später im Heidekrug zahlt jeder selbst.
Dass Boßeln gut läuft, weiß keiner besser als Detlef Brückner. Der Innenarchitekt aus Schnelsen organisierte mit seiner Firma „Boßeln for friends“ (www.bosseln-for-friends.de) seit 2005 mehr als 1000 Boßeltouren in Hamburg und Umgebung – meist in Zusammenarbeit mit einem gutbürgerlichen Gasthof. Auch Unternehmen wie Airbus, Lufthansa und Beiersdorf machten mit. „Meine Frau Silke stammt aus Leer in Ostfriesland“, sagt Brückner. „Durch sie habe ich das Boßelvergnügen entdeckt.“
Einfühlsames Spiel ohne Versicherung
Zurück in den Klövensteen. Die Rast ist vorbei. Die letzten Kilometer werden in Angriff genommen. Die Kondition des Arthur Wilhelm Hauschildt ist enorm beeindruckend. Im Juli begeht er seinen 94. Geburtstag.
Bei einem Pott Kaffee berichtet er aus der Anfangszeit der Runde und seinen maritimen Kontakten nach Bremen. Zwei der Freunde aus der benachbarten Hansestadt sind heute dabei. Natürlich gibt es die üblichen Frotzeleien. HSV, Werder und so.
„Eine behördliche Genehmigung des Bezirksamts Altona brauchen wir immer noch“, weiß Adje Hauschildt, „aber keine Versicherung mehr.“ Diese musste früher abgeschlossen werden. Weil die Leute vom Amt befürchteten, dass die Sportler mit ihren vermeintlich wild umherfliegenden Kugeln Gatter und Zäune zerstören könnten. Das jedoch war ein Irrtum: Wenn überhaupt, dann geht es beim Boßeln nur in Irland mit Eisenkugeln verschärft zur Sache. Im Klövensteen wurde gekonnt und einfühlsam gespielt.
So funktioniert der friesische Volkssport
Beim Boßeln handelt es sich um einen traditionellen friesischen Volkssport für alle Altersgruppen, der auf Wegen und auf wenig befahrenen Landstraßen gespielt wird. Motto: Der Friese lernt erst Laufen, dann Boßeln.
Ziel des Spiels ist es, eine Kugel mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Strecke zu werfen (rollen). Es kommt auf Technik, Kraft und den Anlauf an. Gespielt wird in vielen unterschiedlichen Varianten, Die Vereine tragen teilweise originelle Namen wie „He löpt noch“ oder „Lot hum susen“. Das organisierte Boßeln wird von der Kreisklasse bis zur Landesliga gespielt. Es gibt sogar Europameisterschaften.