Lauenburg. Der Nachbarschaftstreff ToM im Moorring ist derzeit geschlossen. Bewohner des Viertels erhalten trotzdem Hilfe und Beistand.
Die junge Frau hat Licht gesehen im ToM in Lauenburg. Leise klopft sie ans Fenster und hofft, dass Sabine Vogel sie hört. Doch sie muss sich keine Sorgen machen. Für die Leiterin des Nachbarschaftstreffs am Moorring ist dieser Dienstag ein Arbeitstag wie jeder andere, auch wenn die Tür derzeit für Besucher nicht offensteht. Als Sabine Vogel das Fenster öffnet, reicht die Frau einen Briefumschlag herein. Behördenpost, sagt sie. Dann einen zweiten, einen dritten und schließlich den ganzen Plastikbeutel. Sabine Vogel kennt das schon. Die Briefe haben sich angesammelt, die meisten Umschläge sind nicht mal geöffnet. Sie versucht zu erklären: Da fehlt noch ein Beleg, dort eine Unterschrift und der Termin im Jobcenter war schon vor drei Tagen.
Die Corona-Pandemie trifft viele Familien rund um den Moorring in Lauenburg hart. Nicht wenige hielten sich bisher mit Minijobs über Wasser, das waren die ersten, die in der Krise abgebaut wurden. „In vielen Familien gibt es niemanden, der die aktuell geltenden Regelungen versteht, weil es schon an der Sprache hapert“, weiß die Sozialpädagogin.
In vielen Familien fehlt Technik fürs Homeschooling
Normalerweise ist der Nachbarschaftstreff (ToM) für viele Bewohner des Moorrings ein zweites Zuhause. Sie kommen, wenn sie Mut dafür gefasst haben oder die Probleme besonders drücken. Egal, ob es um Schulden geht oder Anträge für Arbeitslosen- oder Elterngeld. Vielen können Sabine Vogel und ihr Team sofort helfen. Bei aufgelaufenen Schulden stellen sie den Kontakt zu anderen Beratungsstellen her.
„Wir nehmen mit unserer Hilfe Betroffenen manchmal eine große Last ab“, sagt sie. Vor der Pandemie frühstückten Frauen einmal in der Woche gemeinsam im ToM. Nachmittags spielten Kinder oder brüteten über den Hausaufgaben. Immer war jemand da, der ihnen dabei über die Schulter sah. 1994 flossen auf der Grundlage einer Sozialraumanalyse 16 Millionen Euro Fördergeld in den Problemstadtteil. Unter anderem wurde davon das Awo-Familienzentrum gebaut und in einer Kooperation von Stadt und Diakonie auch der Nachbarschaftstreff ToM.
"Kippfensterberatung" im Nachbarschaftstreff ToM in Lauenburg
Derzeit ist der Nachbarschaftstreff wie alle Freizeiteinrichtungen geschlossen. Sabine Vogel und ihre beiden Mitarbeiterinnen sind so gut es eben geht, weiterhin für die Bewohner des Viertels da. „Kippfensterberatung“ nennen sie das. Die Sozialpädagogin weiß, wie die Krise derzeit an den Nerven vieler Familien zerrt. Die Kinder sollen zu Hause lernen, aber da ist die viel zu kleine Wohnung, in der niemand einen Rückzugsort findet. Oft fehlt es auch an der technischen Ausstattung in den Haushalten.
Um die Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen beim virtuellen Lernen zu verbessern, hat der Bund nach dem ersten Lockdown mit dem Digitalpakt II nachgelegt. Ein Sofortprogramm in Höhe von 500 Millionen Euro ermöglichte es Kommunen, mobile Endgeräte zu beschaffen und diese im Bedarfsfall an Schüler auszuleihen. 96 Notebooks stehen seitdem in der Albinus-Gemeinschaftsschule bereit und 54 Tablets in der Weingartenschule. „Das ist eigentlich eine gute Sache, aber in manchen Familien gibt es nicht mal W-Lan. Da teilen sich alle ein Handy ohne Vertrag, dessen Datenvolumen schnell aufgebraucht ist“, sagt Sabine Vogel.
Homeschooling ist für viele Familien eine Herausforderung
An manchen Tagen läuft deshalb der Drucker im Computerraum heiß: Lernmaterialien, die digital nicht bearbeitet werden können, müssen eben in Papierform mit nach Hause genommen werden. Homeschooling ist derzeit in allen Familien eine Herausforderung, für Kinder in vielen bedürftigen Familien aber besonders.
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Zu dieser Erkenntnis kommt auch eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung: Demnach wachsen derzeit 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland in Armut auf oder sind davon gefährdet. Corona hat die Situation noch verschärft, an Homeschooling ist nicht zu denken. Fast die Hälfte der Kinder in Armut lebt in Wohnungen mit zu wenigen Zimmern und zu wenig Platz. Jedes vierte Kind hat kein Internet zur Verfügung und etwa jedem siebten fehlt ein ruhiger Ort zum Lernen zu Hause. Die Lage werde sich in den kommenden Monaten zuspitzen, heißt es in der Studie: Die durch die Corona-Krise ausgelöste Rezession treibt viele Familien weiter in die Armut.
Sozialraumanalyse bescheinigt Moorring „keine besonderen Auffälligkeiten“
Für Lauenburg präsentierte im Dezember des vergangenen Jahres das beauftragte Büro die Ergebnisse einer neuen Sozialraumanalyse für die Stadt. Parameter wie Bevölkerungsentwicklung, Altersstruktur, Wohnformen, Arbeitslosenquote, Überschuldung oder Anteil internationaler Staatsangehörigkeiten an der der Bevölkerung flossen in die Analyse des jeweiligen Bereiches ein. Erstaunliches Ergebnis: Nach dieser Analyse gibt es in Lauenburg offenbar keine größeren sozialen Unterschiede in den einzelnen Stadtteilen.
Anders als 1994 stellte sich auch der Moorring in seiner sozialen Struktur als nicht besonders auffällig da. Das Teilgebiet, in das die Gutachter den Moorring eingeordnet hatten, unterschied sich kaum von den Straßenzügen entlang des Elbufers. Das ist allerdings kein Wunder: Anders als 1994 ist nicht nur das eng bebaute Wohngebiet Moorring eingeflossen, sondern auch die Randbereiche mit Einfamilienhäusern und großzügigen Grundstücken.
Sabine Vogel und ihr Team kümmern sich nicht um mögliche Interpretationen dieser Zahlen. Sie werden auch heute wieder das Fenster im Nachbarschaftstreff ToM öffnen, Behördenpost sortieren, Lernstoff ausdrucken – und wenn es sein muss, Hilfe organisieren.