Geesthacht. In zwei Jahren wäre die Tat verjährt gewesen. Nun muss Sergijs P. wegen des Überfalls auf die Avia in Börnsen doch noch ins Gefängnis.
Das Urteil ist gesprochen: Drei Jahre und neun Monate Haft verhängte die Vorsitzende Richterin Helga von Lukowicz gegen den Angeklagten Sergijs P. Der aus Lettland stammend Mann wurde vor dem Landgericht Lübeck schuldig gesprochen, am 28. Juni 2005 um 5.50 Uhr zusammen mit drei weiteren Tätern die Avia-Tankstelle in Börnsen überfallen zu haben. Eine Kassierin war dabei ohnmächtig geschlagen, ein Kunde mit einer Waffe bedroht worden. In zwei Jahren wäre die Tat verjährt gewesen.
Der Prozess hatte am Montag begonnen und war am Donnerstagnachmittag fortgesetzt worden. Rechtsanwalt Viktor Bach sollte die Gelegenheit bekommen, einen Zeugen vorzuladen, der für seinen Mandanten Sergijs P. möglicherweise entlastend hätte aussagen können. Alle Bemühungen seitens des Gerichtes, seinen Aufenthalt ausfindig zu machen, waren am ersten Verhandlungstag gescheitert.
Prozess 18 Jahre nach der Tat: Tankstellenräuber muss ins Gefängnis
Aber auch der zweite Prozesstag begann mit schlechten Nachrichten für den Angeklagten. Sein Anwalt hatte in dieser Sache nichts erreicht. Bei dem Zeugen handelte es sich um den angeblichen Fahrer des Fluchtwagens. Sergijs P. hatte dessen Namen erst am Montag preisgegeben, nachdem bekannt wurde, dass ein zunächst favorisierter möglicher anderer Entlastungszeuge 2007 verstorben ist.
Der dem Gericht bis dato unbekannte Fahrer des VW Golf III, so die Hoffnung der Verteidigung, hätte bestätigen können, dass die Tat ursprünglich nicht geplant gewesen sei. Zumindest, dass Sergijs P. vorher nichts von der Durchführung gewusst habe geschweige denn, dass einer der Täter eine Waffe mit sich führte.
Der 44-Jährige hatte seine Anwesenheit bei der Tat beim ersten Prozesstag zugegeben, aber bestritten, vorher etwas von dem Überfall gewusst zu. Sergijs P. sprach von einer spontanen Entwicklung aus der Situation des Augenblicks heraus. Dieses Wissen oder auch Nichtwissen ist bedeutend für das Strafmaß von einem bis zu fünf Jahren Haft.
Die Richterin findet „weitere Nachforschungen nicht erforderlich“
Viktor Bach versuchte, über einen Anwaltskollegen doch noch einen Kontakt zu dem Zeugen herzustellen. Aber auch das gelang nicht. In einer Akte der Kanzlei war die JVA Hamburg als letzte Adresse für den mutmaßlichen Fluchtwagenfahrer vermerkt. Nach Verbüßung einer Strafe verliert sich seine Spur. Die Richterin selbst hatte parallel bei JVA in Schleswig-Holstein angerufen, ob der Mann vielleicht irgendwo einsitze. Auch hier ergab sich kein Treffer. Gegen ihn sind auch keine Verfahren ausstehend.
Somit wollte Richterin Helga von Lukowicz keine weitere Chance für einen Aufschub einräumen. „Das Beweismittel ist unerreichbar. Weitere Nachforschungen sind nicht erforderlich“, meinte sie. Zudem sei es nicht zu erwarten, dass der Zeuge sich selbst belasten würde. Eher würde er vom Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen. Damit nahm die Verhandlung Fahrt auf in Richtung des Urteils.
„Ich habe hier nicht die richtigen Leute kennengelernt“, sagte der Angeklagte
Sergijs P. war am 10. Februar dieses Jahres in Belgien festgenommen worden, wo er seit 2005 lebte. Dorthin war er wenige Wochen nach der Tat in Börnsen übergesiedelt. Gegen ihn lag seit 2007 ein internationaler Haftbefehl vor. Ob er dorthin geflüchtet sei?, wollte die Richterin wissen. Das verneinte Sergijs P. Ihm sei klar geworden, dass er sein Leben verändern müsse. „Ich habe hier nicht die richtigen Leute kennengelernt“, ließ er über seine Dolmetscherin mitteilen.
Im Gegensatz zum Umfeld in Belgien. Dort habe er sehr gute Leute getroffen, sei nicht mehr kriminell gewesen. Er arbeite nun im Bauwesen, habe eine Frau und ein dreijähriges Kind. Und er züchte Tauben. „Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden“, erklärte Sergijs P. „Ich bedaure, was passiert ist und hoffe, dass Sie meine Schuld sehr human behandeln“.
Vor 18 Jahren sei er erst wenige Tage vor der Tat in Börnsen aus Lettland nach Hamburg gekommen, um Arbeit zu suchen, sagte Sergijs P. In Lettland habe er Schweißer gelernt. Über einen Bekannten fand er Aufnahme in einer Flüchtlingsunterkunft in Bergedorf – und stieß auf den Kreis der Mittäter.
Die Geschichte einer spontanen Tat glaubte die Richterin nicht
Nach einem Alkohol- und Drogengelage seien alle am Tattag losgefahren, um unter anderem Kokain zu kaufen. Zwischendurch musste an der Avia-Tankstelle getankt werden. Wo sich die bekannten Ereignisse dann – der Erzählung von Sergijs P. nach – spontan entwickelt hätten.
Das kaufte ihm Richterin Helga von Lukowicz nicht ab. Sie ließ noch einmal die Bilder der Überwachungskameras im Außen- und Innenbereich zeigen. „Es handelt sich nicht um Spontanität. Diese Geschichte stimmt nicht“, sagte sie. „Da stellt sich die Frage: Warum gehen drei in die Tankstelle. Und der vierte bleibt am Auto?“ Zudem fand sie die Zeit von wenigen Minuten, innerhalb der die Tat ablief, viel zu kurz für eine spontane Handlung.
In Wentorf wurde das Tor einer Tiefgarage geknackt
Die Richterin sah stattdessen eine erhebliche kriminelle Energie bei Planung der Tat, die durch den Diebstahl des Autos professionell vorbereitet worden sei. Der VW Golf III wurde in Wentorf in einer Tiefgarage am Stöckenhoop gestohlen. Vorher wurde der Schließzylinder für das Rolltor der Tiefgarage geknackt und der Kontakt überbrückt, sodass sich das Rolltor öffnete.
Der oder die Täter hatten dort zunächst noch bei weiteren Fahrzeugen versucht, ins Innere einzudringen, die Polizei fand später einige eingeschlagene Seitenfenster vor. Das KfZ-Kennzeichen des Golf machte einen Ringtausch. Die des späteren Fluchtfahrzeugs wurden an einem Ausliefercaddy einer Wentorfer Apotheke angeschraubt, die vom Transporter wiederum am Golf plaziert – das hätte eine Fahndung erschwert, wenn der Diebstahl des Golfs gemeldet worden wäre.
Beim Fluchtwagen waren die Zünddrähte kurzgeschlossen
Der Golf wurde nach der Tat nach dem Auffinden durch die Polizei an der Rothenhauschaussee in Bergedorf auf Höhe der Kleingartenkolonie zur weiteren Untersuchung durch die Kripo abtransportiert. Der Wagen war nach allen Regeln der Kunst gestohlen worden. Die Lenksäulenverkleidung und Zündschlossstecker lagen im Fußraum des Beifahrersitzes, das Zylinderschloss war geknackt, die Zünddrähte verdreht verdrahtet.
Der Ansicht der Richterin nach wurde vorher auch besprochen, wie die Kassierin auszuschalten ist. Die Schusswaffe sollte als Drohung eingesetzt werden. „Der Schlag mag spontan gewesen sein, und diese Körperverletzung rechnen wir dem Angeklagtem nicht zu“, räumte sie immerhin zugunsten des Sergijs P. ein.
So kam sie zum Urteil: drei Jahre, neun Monate. Ein hartes Urteil für den Mann, der nicht vorbestraft ist. Damit lag sie fast deckungsgleich mit Staatsanwältin Tabea Rutenkröger. Die hatte einen „klassischen Raub“ in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gesehen und drei Jahre und zehn Monate Haft gefordert.
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Anwalt Viktor Bach hatte in seinem Plädoyer zuvor noch einmal nachdrücklich für die These der Spontanität geworben. „Dafür spreche die Tatsache, dass er nicht maskiert war und keine Anstalten gemacht habe, die Tat zu vertuschen, zudem keine Handschuhe trug. Die Tat liege lange zurück, Sergijs P. sei in Belgien nicht mehr negativ in Erscheinung getreten. Viktor Bach beantragte: „Nicht mehr als zwei Jahre, zur Bewährung auszusetzen“.
Binnen einer Woche kann Revision eingelegt werden.