Geesthacht. Zahl der Sexualdelikte steigt, Weisser Ring warnt eindringlich – und bietet einen wirksamen Schutz vor betäubenden Substanzen an.
Der Zeit der ausgelassenen Dorf- und Sommerfeste sieht die Opferhilfeorganisation Weisser Ring mit Blick auf die Statistik des vergangenen Jahres mit Sorge entgegen. Die Außenstelle Herzogtum Lauenburg verzeichnet für 2022 einen besonders starken Anstieg beim Beratungsbedarf wegen Sexualdelikten. Suchten 2021 noch 20 Opfer deswegen Hilfe, wendeten sich zuletzt 33 Opfer an den Weissen Ring. „Vor allem sehr viele junge Frauen“, berichtet der Geesthachter Außenstellenleiter Rainer Kaefert.
Vergewaltigungen nach der heimlichen Vergiftung eines Getränkes mit den geruchs- und geschmacklosen K.-o.-Tropfen spielen verstärkt eine Rolle. Zunehmend im Fokus: Nicht etwa Bars in Szenevierteln in Großstädten wie Hamburg, sondern Volksfeste auf den Dörfern. Nach einer Tat auf einem Sommerfest im Südkreis war eine junge Frau, die bewusstlos vergewaltigt worden war, psychisch so sehr angeschlagen, dass sie schließlich Selbstmord beging.
Tatort Dorffest – der fiese Trick mit den K.-o.-Tropfen
Die Polizei Neumünster und die Polizeidirektion Itzehoe sahen sich bereits im Juni 2022 veranlasst, eine offizielle Warnung vor den gefährlichen Substanzen herauszugeben. Der Rat von vor einem Jahr gilt immer noch: „Die Kriminalpolizei rät, bei einem Verdacht unverzüglich eine Polizeidienststelle aufzusuchen oder anzurufen. Je früher die Polizei Kenntnis erhält, desto größer ist die Möglichkeit eines Nachweises“.
Betroffenen wird dringend geraten, so schnell wie möglich eine Notfallambulanz oder einen Arzt aufzusuchen. Denn im Blut oder im Urin sind K.-o.-Tropfen nur etwa sechs bis zwölf Stunden nachweisbar. Wenn die Proben fachgerecht gelagert werden, können sie auch später noch untersucht werden. Bereits die Verabreichung solcher Tropfen ist strafbar. Sie erfüllt den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung und kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren geahndet werden.
K.-o.-Tropfen: Weisser Ring warnt – und vertreibt einen wirksamen Schutz
Der Weisse Ring vertreibt mittlerweile einen Schutz, der zumindest die Flaschentrinker unter den Feiernden in der Partysaison 2023 schützen kann. Ein Plastikstopfen – genannt „Spikey“ – wird in den Flaschenhals gesteckt, durch das Loch in der Mitte kommt ein Strohhalm – für andere Substanzen bleibt da kein Platz mehr. Montags bei der regelmäßigen, anmeldefreien Beratung im Geesthachter Oberstadttreff (Dialogweg 1) von 17 bis 19 Uhr will Manfred Wilkens immer ein paar Exemplare dabeihaben und an Interessente kostenlos abgeben. Damit Flaschen nicht verwechselt werden, gibt es „Spikey“ in verschiedenen Farben.
Keinesfalls allein gehen – darauf warten die Täter nur
Zur Sicherheit kommt der Rat: Glas oder Flasche nie unbeobachtet stehenlassen, ein Getränk bei Unsicherheit lieber auch mal unausgetrunken stehen lassen. Und: Keine offenen Getränke von Unbekannten annehmen, auf das Bauchgefühl hören und generell Personen meiden, die einem komisch vorkommen. Wer sich plötzlich unwohl fühlt, sollte nicht zögern, sofort Freunde, Bekannte oder das Personal anzusprechen und um Hilfe zu bitten.
Wer aber das Gefühl hat, dass ihm K.-o.-Tropfen verabreicht wurden, sollte keinesfalls allein die Veranstaltung verlassen – darauf warten die Täter nur. Sie schlagen gerade dann zu, wenn die Opfer allein und bewusstlos geworden sind. Opfer von K.-o.-Tropfen finden Unterstützung über das kostenlose Opfer-Telefon des Weissen Ringes unter Telefon 116 006.
Auch bei anderen Delikten steigen die Fallzahlen
Nicht nur bei den Sexualdelikten, auch bei anderen Straftaten ist die Zahl der Beratungen durch den Weissen Ring gestiegen, insgesamt um 23 Prozent. „Das ist viel“, meint Rainer Kaefert. Eine Entwicklung, die sich für den Weissen Ring im ersten Quartal dieses Jahres bereits fortsetzt. Die Statistik deckt sich in etwa mit der Kriminalstatistik des Landes für 2022. In Schleswig-Holstein wurden im vergangenen Jahr 39.707 Opfer registriert, das sind 4.997 oder 14,4 Prozent mehr als 2021.
Immerhin: Die Aufklärungsquote durch die Polizei beträgt 61,1 Prozent und nahm gegenüber 2021 um 3,5 Prozentpunkte zu. Die Zahl aufgeklärter Straftaten ist um 33.154 auf insgesamt 135.084 gestiegen.
Ständige Kontrolle der Fenster als Zwangshandlung nach dem Einbruch
Am meisten Beratungsbedarf hatten beim Weissen Ring Frauen mit 88 Fällen. Und es muss nicht immer eine Gewalttat sein, die Menschen bis ins Mark erschüttert. „Die psychologische Belastung zum Beispiel nach einem Einbruch wird völlig unterschätzt“, erklärt Manfred Wilkens. „Wir hatten eine Frau zur Beratung, die nicht mehr schlafen konnte, sie stand nachts immer wieder auf, um die Fenster zu kontrollieren. Manche trauen sich auch nicht mehr in die Stadt zu gehen“.
Mit einer schnellen Hilfe für die Psyche sieht es allerdings düster aus im Norden. „In ganz Schleswig-Holstein gibt es nur zwei Notfallambulanzen wegen der psychischen Situation“, sagt Manfred Wilkens – „eine in Flensburg und eine in Lübeck“.
Neun Monate Wartezeit in psychologischer Praxis
Manfred Wilkens machte eine Testanfrage bei einer psychologischen Praxis. Ergebnis: Es gab eine neunmonatige Wartezeit vom Zeitpunkt der Anfrage bis zu einem Termin. „Das Problem mit den Psychologen ist folgendes“, sagt Rainer Kaefert: „Die Anzahl derer, die ihre Hilfe brauchen, steigt ständig. Wir sind gar nicht eingestellt zum Beispiel auf syrische Männer und Frauen, die wer weiß was unterwegs erlebt haben. Die werden auch hingeschickt“.
Die weiteren Beratungen wurden geleistet bei Bedrohung (drei Fälle), Betrug (13), Diebstahl (2), Mobbing (1), Raub (2), Stalking (7), Tötungsdelikte (3), sonstige Delikte (21) und Körperverletzung (30). Hiervon fiel in 21 Fällen häusliche Gewalt an. Macht insgesamt 115 Beratungen, dafür wendeten die ehrenamtlichen Berater 1700 Stunden auf. Der Weisse Ring unterstützt Opfer von Kriminalität auch finanziell, rund 25.465 Euro wurden ausgezahlt.
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Die Helfer benötigen jetzt selbst Hilfe
Der Weisse Ring benötigt für das kommende Jahr selbst Hilfe. Vier Berater, die aus Altersgründen ausschieden, müssen ersetzt werden, darunter drei Frauen. Zurzeit gibt es nur noch sieben Opferhelfer, unter ihnen ist nur eine Frau verblieben. Das ist ein Problem, denn einige der weiblichen Opfer, die Beratungsbedarf haben, wollen manchmal nicht mit einem Mann sprechen. Gerade weitere Frauen sind also dringend erwünscht. „Es gibt kein festes Anforderungsprofil“, sagt Manfred Wilkens. „Außer erwachsen zu sein und über eine gewisse Lebenserfahrung zu verfügen“. Wer Interesse hat, möge sich unter Telefon 04151/895138 oder per E-Mail an kaefert.rainer@mail.weisser-ring.de melden.