Hamburg. Über Jahrzehnte hat Hamburg seinen Nahverkehr nur bei Engpässen weiterentwickelt. Jetzt geht die Stadt in die Offensive.
Volle Bahnen, verstopfte Straßen: Pendler in der Metropolregion Hamburg haben täglich damit zu kämpfen, dass in der Hauptverkehrszeit die Infrastruktur in Hamburg und seinem Umland an ihre Grenzen stößt. Jede Baustelle, jede Ampel- oder Weichenstörung führt auf der jeweiligen Route zum Kollaps.
Fast 350.000 Pendler aus dem Umland passieren auf ihrem Berufsweg die Hamburger Stadtgrenze, in die Gegenrichtung sind es immerhin rund 125.000 Menschen. Aus dem Landkreis Harburg machen sich täglich gut 45.000 Personen auf den Weg nach Hamburg (Stormarn: 40.400, Segeberg: 33.800, Pinneberg: 50.800) und treffen dort die Berufstätigen aus den Nachbarlandkreisen und noch weiter entfernten Wohnorten. Nicht nur Umweltgründe sprechen dafür, dass noch mehr Autofahrer auf Busse und Bahnen umsteigen.
Pendler sind häufiger psychisch bedingt krank geschrieben
Nach einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse (TK) im Jahr 2017 sind Pendler häufiger psychisch bedingt krank geschrieben. „2016 hatte bereits die Stress-Studie der TK gezeigt, dass der Straßenverkehr eine der Hauptstressursachen ist“, betont die TK. Der Straßenverkehr als Stressfaktor habe denselben Stellenwert wie die ständige Erreichbarkeit durch Smartphone, Facebook und Co.
Dennoch rechnet Carsten Gertz, Leiter des Instituts für Verkehrsplanung und Logistik an der Technischen Universität Hamburg, damit, dass die Zahl der Pendler weiter zunehmen wird: „Die Zuwanderung in den Raum Hamburg hält an und trifft auf einen sehr engen Wohnungsmarkt in der Stadt. Viele Menschen, gerade Familien, finden keine bezahlbaren Angebote, die ihren Vorstellungen vom Wohnen entsprechen, und weichen auf das Umland aus.“
„Im Stau zu stehen, macht keinen Sinn!“
Unter den Pendlern habe der zunehmende Stellenwert von Umwelt- und Klimaschutz dazu geführt, dass sich mehr Menschen für den öffentlichen Nahverkehr entscheiden, sagt der Verkehrsplaner – „im Stau zu stehen, macht keinen Sinn. Hinzu kommt die Parkplatznot am Zielort“.
Nach einer Studie des Navigationsgeräte-Herstellers TomTom haben Autofahrer, die in Hamburg unterwegs sind, im Tagesdurchschnitt staubedingt eine 33 Prozent längeren Fahrzeit. Damit erleiden sie mehr Zeitverluste als in jeder anderen deutschen Großstadt.
In den Hauptverkehrszeiten liegt das Plus bei mehr als 50 Prozent. Doch auch die Alternative, in den Hauptverkehrszeiten in voll besetzten Bahnen zu fahren, ist nicht jedermanns Sache. Gertz: „Die großen Achsen ins Hamburger Umland sind alle ziemlich stark ausgelastet – eine Erweiterung der Kapazität wäre wünschenswert.“
Mehr Bahn-Verbindungen mit kürzeren Takten
Die werde von der Stadt generell intensiv vorangetrieben, sagt Dietrich Hartmann, einer der beiden Geschäftsführer des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV): „Zum Fahrplanwechsel im Dezember wird die Angebotsoffensive II umgesetzt mit mehr Verbindungen und kürzeren Takten innerhalb des Stadtgebiets. Hartmann lobt den Paradigmenwechsel in Politik und Verwaltung: „Früher wurde die Kapazität der Verkehrsmittel nur ausgebaut, wenn irgendwo ein Engpass auftauchte. Heute wird wirklich Geld ins System gesteckt, um zu erreichen, dass mehr Menschen durch ein für sie attraktives Angebot mit dem HVV fahren.“
Die Tatsache, dass der Zuwachs an Fahrgästen auf der hochbelasteten Strecke nach Harburg geringer ist als auf anderen Hauptlinien, deute daraufhin, dass Verlässlichkeit und Komfort eine große Rolle bei der Wahl des Verkehrsmittels spielten. Hartmann: „Wir ahnen, dass noch mehr Menschen bereit sind, mit dem HVV zu fahren, als es heute real tun.“
Bei S-Bahnen gibt es Nachholbedarf
Der HVV-Geschäftsführer sieht Nachholbedarf speziell bei den S-Bahnen. Während die U-Bahn in Sachen Zuverlässigkeit bundesweit in der Spitzengruppe liege, leide die Betriebsqualität des S-Bahnverkehrs an Mängeln bei der Infrastruktur, den Fahrzeugen und an Personalengpässen.
Bei der Akquise von Zugführern und Busfahren stünden generell die im HVV organisierten Verkehrsbetriebe jetzt in Konkurrenz mit dem VW-Sammeltaxi-Betrieb Moia. Hartmann: „Derzeit fahren gut 100 Moia-Fahrzeuge durch Hamburg. Im Schichtdienst braucht man dazu 300 bis 400 Fahrer. Und es sollen 500 Fahrzeuge werden.“
Zu wenig Geld für die Infrastruktur der Bahn
Nach Norderstedt fährt die U1, ansonsten wird das Hamburger Umland mit S- und Regionalbahnen erschlossen. Sie nutzen die Gleise der DB Netz AG. Hartmann: „Über Jahrzehnte floss zu wenig Geld in die Infrastruktur. Das wird jetzt versucht, nachzuholen. Aber oftmals sind die Planungen langwierig. Und wenn gebaut werden soll, ist es schwierig, ausführende Firmen zu finden – es gab Ausschreibungen, bei denen kein Angebot einging.“
Engpass in Richtung Harburg und Stade
Nicht alle Achsenverbindungen sind stark verbesserungswürdig. Bei der S-Bahn-Linie 3 Richtung Pinneberg „sieht es ganz gut aus“, befindet Hartmann. Den größten Engpass sieht er nach wie vor bei der Gegenrichtung nach Harburg und Stade. Hier versuche die Stadt mit längeren Zügen und kürzeren Takten gegenzusteuern. Langfristig sei eine weitere Linie – die S32 geplant.
Zuvor wird die S21 Fahrt aufnehmen. Die S21 wird auf der heutigen AKN-Strecke nach Kaltenkirchen unterwegs sein und das als durchgehende Verbindung zur Innenstadt. Derzeit müssen die Fahrgäste Richtung City in Eidelstedt umsteigen.
S21 wird um 2027 in Betrieb gehen
Die S21 werde etwa im Jahr 2027 in Betrieb gehen, sagt Hartmann. Dann könnte auch die S4 Richtung Bad Oldesloe ins Rollen kommen; bis Bargteheide sei ein Zehn-Minuten-Takt geplant. Die Planungsphase für die S4 erstreckt sich bereits über Jahrzehnte.
Aktuell haben Anwohner Klagen gegen den Ausbau der Trasse eingereicht. Sie fürchten, dass in Zukunft, wenn der geplante Fehmarnbelttunnel zwischen Deutschland und Dänemark gebaut ist, mehr Güterverkehr rollen wird.
Hamburger Hauptbahnhof bleibt das Nadelöhr
Generell limitiere der Güterverkehr den regionalen Personenverkehr, so Hartmann. Das werde am Hauptbahnhof besonders deutlich, dem Nadelöhr des Hamburger Schienenverkehrs: „Die Gleise neun und zehn sind reine Durchfahrtsgleise für den Güterverkehr, vier weitere Gleise sind für die S-Bahnen reserviert.“ Das setze dem Ausbau von HVV-Strecken, die über den Hauptbahnhof führen, enge Grenzen.
Zahl der Pendler wird weiter zunehmen
Wie Verkehrsplaner Gertz geht auch Hartmann davon aus, dass mit der wachsenden Stadt auch die Zahl der Pendler weiter zunehmen wird. Allerdings könnte auch ein gegenläufiger Prozess an Bedeutung gewinnen, den Gertz „Reurbanisierung“ nennt: „Das Bewusstsein ändert sich. Das in den 1980er Jahren entstandene Ideal vom Häuschen im Grünen ist heute nicht mehr das ideale Bild. Früher war meist nur der Mann erwerbstätig, die Frau blieb mit den Kindern zu Hause. Heute arbeiten beide. Dafür bietet die Stadt bessere Möglichkeiten: Der Haushalt ist besser organisierbar, ebenso die Kinderbetreuung und der Schulbesuch.“
Bei einem Wohnortwechsel sollte sehr genau überlegt werden, welche (zusätzlichen?) Wege dadurch entstehen, rät der Verkehrsplaner – er selbst braucht zu Fuß zehn Minuten, um zur Arbeitsstätte zu kommen. „Wer täglich zehn Minuten länger braucht als zuvor, verliert über das Jahr gerechnet drei Tage Freizeit“, so Gertz. „Oftmals wird nicht abgewogen zwischen dem preiswerteren Wohnraum und den zusätzlichen Kosten für Mobilität.“