Stade. Mottenlöcher? Scheuerstellen?: In Stade bessert eine Strickerei erstmal aus, bevor sie Neuware verkauft. Wertvolle Tipps gibts dazu.

Wenn Karl-Frank Siegel über den Wertstoff seiner Strickerei spricht, gerät er ins Schwärmen. „Was Wolle kann, ist unfassbar.“ Aber gegen eines hat selbst das Wunder Wolle keine Chance: Motten. Damit ein paar Löcher aber nicht das Lebensende seiner Pullover bedeuten, beschäftigt Siegel einen Teil seines Teams ausschließlich für Reparaturen. Sein Credo: „Besser man lässt einen Troyer erst einmal reparieren als gleich einen neuen zu kaufen.“

Siegel (65) ist gelernter Tischler, die 1948 gegründete Strickerei in Stade übernahm er von seinem Vater. Der hatte mit dem Label „Seepferdchen“ noch Mode aus gemischten Stoffen produziert, der Sohn geht seinen Weg mit Wolle. „Rymhart“, was so viel heißt wie „weites Herz – klarer Horizont“ stellt ausschließlich Produkte aus Schurwolle und Merinowolle her, ob Seemannspullover oder Shirt, Mütze oder Decke.

Swetlana Keller-Herl näht gestrickte Flicken in den Ellenbogenbereich eines Seemannspullovers.
Swetlana Keller-Herl näht gestrickte Flicken in den Ellenbogenbereich eines Seemannspullovers. © HA | Carolin George

Der Troyer aus Stade zog Kreise, immer größere. Seit 2011 gibt es Logo und Online-Shop

Als er fürs Segeln keinen Pullover fand, mit dem er zufrieden war, kaufte Siegel kurzerhand selbst Wolle und baute sich einen eigenen, wie er den Prozess vom Stricken bis zum Zusammennähen der Einzelteile nennt. Sein Troyer zog Kreise, immer größere. Seit 2011 gibt es ein Logo, einen Online-Shop – und seit ein paar Jahren eine Fangemeinde. „Das ist fast ein bisschen unheimlich“, sagt der Chef.

Der sich im Übrigen gar kein Chef sein möchte. „Ich bin derjenige in der Band, der hinten steht und aufhebt, wenn jemandem etwas herunterfällt“, sagt der Inhaber der GmbH & Co. KG. „Das hier ist nicht mein Laden. Wir sind ein Organismus.“

„Produkte bewusst mit einem Nutzungsende zu versehen, ist Industrieidiotie!“

Ungewöhnlich genug ist, dass sich ein Wirtschaftsbetrieb mit 45 Angestellten mit in Niedersachsen produzierten Strickwaren auf dem Markt hält. Vielleicht aber auch nicht, weil Karl-Frank Siegel eine Haltung bedient, die bei vielen Menschen in den vergangenen Jahren immer stärker wird: den Wert von Produkten zu bewahren.

Chefnäherin Silke Krohn arbeitet seit 37 Jahren bei der Strickerei, gerade näht sie das Herstellerschild in den Kragen.
Chefnäherin Silke Krohn arbeitet seit 37 Jahren bei der Strickerei, gerade näht sie das Herstellerschild in den Kragen. © HA | Carolin George

„Ich hasse Obsoleszenz“, sagt der Unternehmensinhaber. „Produkte bewusst mit einem Nutzungsende zu versehen, ist Industrieidiotie. Ich finde es viel richtiger, sie zu erhalten und zu pflegen.“ Wer seinen „Rymhart“ nicht mehr mag, kann ihn in Zahlung geben, nach einer Aufarbeitung verkauft die Strickerei ihn als Second-Hand-Stück. Und wer das heiß geliebte, aber mottengeplagte oder an den Ellenbogen dünn gescheuerte Stück nach Stade schickt, bekommt es repariert wieder zurück. Kostenpunkt: 45 Cent pro Arbeitsminute.

Tatjana Morowskin am Dämpftisch.
Tatjana Morowskin am Dämpftisch. © HA | Carolin George

Rund 400 Reparaturen kommen im Jahr zusammen, plus etwa 900 Auffrischungen. Denn wer bei der Strickerei einen Pullover kauft, erhält nicht nur ein Zertifikat mit Seriennummer, sondern auch einen Gutschein für ein sogenanntes Refreshing: eine Wäsche mit Kur.

Gewinn macht Siegel mit der Reparatur nach eigenen Angaben nicht, im Gegenteil.

Gewinn macht Siegel mit der Reparatur nach eigenen Angaben nicht, im Gegenteil. Das Geld verdient er mit den neuen Stücken. Trotzdem hält er an seiner Haltung fest: „Wenn ich etwas reparieren kann, was wäre das denn, wenn ich es nicht täte?“ Auf der Firmenwebsite heißt es: „Wir hoffen auf die Zukunft, nicht nur mittels Qualität und Service zu begeistern, sondern zusehends auch durch unseren Anspruch, Arbeit und Beschäftigung auf dem Weg des Bewahrens und weniger auf dem des Konsumierens zu generieren.“

Julia Schulz stopft die Löcher, die eine Motte in den Troyer gefressen hat.
Julia Schulz stopft die Löcher, die eine Motte in den Troyer gefressen hat. © HA | Carolin George

Damit zählt „Rymhart“ zu denjenigen Unternehmen, die nach den Prinzipien der sogenannten Gemeinwohlökonomie wirtschaften. Ihnen geht es nicht allein um Wirtschaftswachstum, sondern um Aspekte wie Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung. Die sogenannte Gemeinwohlökonomie-Bilanz seines Betriebes hat Siegel öffentlich zugänglich auf die Firmenwebsite gestellt.

Sein Marketing-Fachmann sorgt derweil dafür, dass auch das gut läuft, was Gewinne macht: der Verkauf von Neuware. Mehr als 55.000 Pullover hat das „Rymhart“-Team mittlerweile gestrickt und verkauft, allein 6000 Troyer waren es im vergangenen Jahr.

Der stärkste Feind der Motte übrigens, so der Tipp des Fachmanns, ist übrigens nicht das mitgelieferte Säckchen Lavendel. Sondern Bewegung. „Am besten den Pulli täglich einmal schütteln“, sagt Siegel. „Das mögen sie überhaupt nicht.“