Landkreis Harburg. Recherche zeigt erstmals das Ausmaß von Betreuungsausfällen. Im Gegensatz zu Lüneburg wird im Kreis Harburg ein Grundproblem sichtbar.

  • Wie häufig deutsche Kitas Notschließungen veranlassen, zeigt eine aktuelle Recherche
  • Die Zahlen machen die Folgen des Personalmangels etwa für den Landkreis Lüneburg sichtbar
  • Für den Landkreis Harburg und den Landkreis Stade offenbart sich ein ganz grundsätzliches Problem

Die Kitas in Deutschland stehen vor dem Kollaps. Zu diesem Ergebnis kommt das Recherchenetzwerk Correctiv.Lokal nach einer Datenauswertung zum Personalmangel in den Kindergärten, Krippen und Co. Die Recherche zeigt, wie häufig Einrichtungen in Deutschland die vereinbarten Betreuungsangebote einschränken oder ganz ausfallen lassen müssen. Allein im vergangenen Kita-Jahr meldeten Anbieter demnach in mehr als 26.000 Fällen eine Unterbesetzung.

Auch in den Städten und Gemeinden im Landkreis Harburg beklagen Eltern gegenüber unserer Redaktion immer wieder einen Notstand durch verkürzte Öffnungszeiten und spontane Ausfalltage. Und rufen Kita-Träger, Behörden und Politik verzweifelt zum Handeln auf, weil sie auf die Betreuung ihrer Kinder angewiesen sind.

Paulina Bischoff, Leiterin der Hittfelder Kita Am Redder (in rot), berichtete Anfang 2023 von der Notlage in ihrer Einrichtung.
Paulina Bischoff, Leiterin der Hittfelder Kita Am Redder (in rot), berichtete Anfang 2023 von der Notlage in ihrer Einrichtung. © HA | Martina Berliner (Text und Fotos)

Wie sich durch die Kooperation zwischen Correctiv.Lokal, Frag den Staat und dem Abendblatt zeigt, ist eine Einschätzung der Gesamtlage im Kreis Harburg im Gegensatz zu vielen Regionen in Deutschland gar nicht möglich. Weder für Außenstehende noch die Behörden selbst. Es liegen keine Daten vor. Anders sieht es im Landkreis Lüneburg aus.

Personalmangel unbekannt: Wie oft schließen Kitas im Landkreis Harburg?

Der Grund: Das Landesamt erfasst Meldungen der Träger über personalbedingte Schließungen nicht systematisch. Eine Auswertung für die derzeit 214 aktiven Einrichtungen kann es folglich nicht geben. Das ließ die Pressestelle der Regionalen Landesämter für Schule und Bildung das Abendblatt auf Nachfrage wissen.

„Personelle Ausfälle in den Kindertageseinrichtungen werden nur vereinzelt gemeldet“, heißt es schriftlich vom Landesamt. „Diese Meldungen werden nicht ausgewertet und von daher liegen keine verlässlichen Daten vor.“ Hinweis der Behörde: Es gebe „keine pauschale Verpflichtung der Träger, personelle Ausfälle zu melden.“ Wann und wie oft es im Landkreis Harburg zu Schließungen oder reduzierten Betreuungszeiten kommt, könne nicht verlässlich benannt werden.

Für die Kitas im Kreis Harburg ist das Niedersächsische Landesjugendamt als Aufsichtsbehörde zuständig. Die Kreisverwaltung in Winsen führt keine Daten, weil die Aufgaben der Kindertagesbetreuung per Vertrag an die einzelnen Gemeinden übertragen wurden.

Nicht nur in Niedersachsen fehlen wichtige Infos für Lösungsansätze

Das Landesjugendamt prüfe lediglich Einzelfälle bei Anlässen, kontrolliere die Meldepflicht stichpunktartig und leite gegebenenfalls Maßnahmen ein. Ob und wie die zuständige Behörde im vergangenen Kita-Jahr 22/23 im Kreis Harburg wegen personeller Schieflage eingegriffen, unterstützt oder beraten hat, kann die Pressestelle auf Abendblatt-Anfrage nicht beantworten.

Niedersachsen ist nicht das einzige Bundesland, in dem es keinen umfassenden Überblick über die Personal-Notmeldungen gibt, wie Correctiv.Lokal herausfand. Doch dort ist die Datenlage besonders dünn. Während mögliche Notlage im Landkreis Harburg sowie im Landkreis Stade und vielen weiteren Kommunen so nicht realistisch eingeschätzt werden kann – und damit eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von Lösungsansätzen fehlt –, liegen die Zahlen für die außerplanmäßigen Schließungen von zahlreichen deutschen Jugendämtern und Landesjugendämtern vor. Darunter für den Nachbarkreis Lüneburg als einer von wenigen Ausnahmefällen in Niedersachsen.

So oft müssen Kitas im Landkreis Lüneburg schließen

So zeigen die Angaben des Lüneburger Kreisjugendamtes, dass mindestens zwölf der 84 vorhandenen Kitas im vergangenen Kita-Jahr (August 2022 bis Juli 2023) aufgrund von Personalmangel die vereinbarte Betreuung nicht mehr gewährleisten können.

Insgesamt kam es in dem Zeitraum in 35 Fällen zu Einschränkungen des Kita-Betriebes. 21 Mal kürzten Einrichtungen die Betreuungszeit außerplanmäßig. Vollständige Schließungen erfolgten in insgesamt zehn Fällen. Vier Meldungen gab es für Teilschließungen. In den Daten zeigt sich, dass einzelne Standorte mehrmals zu Notschließungen gezwungen sein müssen. Stärkster Monat bei den Komplettschließungen war der März 2023, in dem fünf Meldungen für diese Maßnahme eingingen.

Mehr zum Thema

Meldepflicht oder nicht? So reagiert Niedersachsens Landesjugendamt

Eine gesetzliche Meldepflicht für Träger bei Personalmangel ergibt sich aus § 47 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII. An mehreren Stellen werden „erhebliche personelle Ausfälle im Betreuungsdienst“ als Beispiele für „meldepflichtige Entwicklungen“ aufgeführt, die das Kindeswohl beeinträchtigen können. So etwa in Merkbättern des Niedersächsischen Landesjugendamtes und in den Handlungsleitlinien zum Bundeskinderschutzgesetz der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter.

Erneut auf die Sachlage angesprochen, bejaht das Niedersächsische Landesjugendamt eine Meldepflicht für „erhebliche personelle Ausfälle im Betreuungsdienst“ an. Dabei sei zu beachten, dass Träger selbst prüfen, ob ein Fall meldepflichtig sei. Doch auch über diese meldepflichtigen Personalpässe hat das Amt keinen Überblick. „Uns liegen nur zu dem Beispiel ‚erhebliche personelle Ausfälle‘ keine Zahlen vor.“ Erfasst würden generell betriebsgefährdende Ereignisse.

Wie groß das Problem in südlich von Hamburg wirklich ist, lässt sich nicht beziffern.
Wie groß das Problem in südlich von Hamburg wirklich ist, lässt sich nicht beziffern. © dpa | Peter Kneffel

Kitas in Not: Correctiv-Umfrage liefert erschreckendes Ergebnis

Auch Correctiv.Lokal stellte in der Recherche fest, dass nicht alle Kitas ordnungsgemäß melden. In vielen Fällen würden Einrichtungen ihre Öffnungszeiten nicht offiziell kürzen – die Eltern aber bitten, ihre Kinder früher abzuholen. Die gesammelten Daten können also lediglich als Mindestzahlen gelten. Aufgrund der unterschiedlichen Meldepraxis erlauben die Daten zudem keine regionalen Vergleiche und zeigen höchstens einen Trend auf. Personalmangel-Meldungen können zudem durch Krankheitslagen ausgelöst werden und müssen nicht zwingend aus einer Unterbeschäftigung resultieren.

Ein deutliches Bild zeichnet die nicht-repräsentative Correctiv-Umfrage unter rund 2000 Kita-Mitarbeitenden: Über 50 Prozent der Befragten berichten demnach, dass sie in ihrem Arbeitsalltag nicht mehr pädagogisch mit den Kindern arbeiten können, sondern sie nur noch verwahren. Dass Bastelangebote, Projekte und Bewegungsprogramm im Sinne des Bildungsauftrages in der aktuellen Lage ausfallen, ist auch aus Kitas im Landkreis Harburg zu vernehmen.

Mehr zu Correctiv.Lokal und Kita-Notstand

Möchten Sie, dass sich etwas ändert? Dann werden Sie jetzt aktiv! Besuchen Sie die Themenseite kitanotstand.de, die von unserem Kooperationspartner CORRECTIV erstellt wurde. Dort finden Sie vielfältige Möglichkeiten, wie Sie selbst einen Beitrag leisten können. Erfahren Sie, wie Sie die Politik zum Handeln bewegen können und entdecken Sie Mitmalbilder für Ihre Kinder sowie Plakate, die Sie in Ihrer Nachbarschaft aufhängen können, um auf den Kitanotstand aufmerksam zu machen.