Lüneburg. Eltern in Lüneburg sind nicht mehr auf sich allein gestellt, wenn die Tagesmutter erkrankt. Ein Vorbild für Harburg, Stade und Buxtehude?
Viele Eltern kennen es: Die Tagesmutter muss kurzfristig die Betreuung absagen – und die Gedanken überschlagen sich: Wo kann das Kind jetzt hin? Lassen sich Termine bei der Arbeit verlegen? Wer kann einspringen? Und wie reagiert der Chef, falls ich heute schon wieder ausfalle? Inmitten der vorweihnachtlichen Krankheitswelle dürften das wieder alltägliche Fragen sein.
Fehlende Vertretungslösungen in der Tagespflege sind deutschlandweit ein Problem. Obwohl die Tagesbetreuung von Kindern als zentraler Baustein einer modernen Familienpolitik gilt und speziell für die Tagespflege sogar eine gesetzliche Verpflichtung für eine Ersatzbetreuung besteht, fehlen vielerorts verlässliche Angebote. Eine flächendeckende Vertretungspraxis ist auch in Harburg und Umland nicht gegeben, wie die Abendblatt-Recherche zeigt.
Keine Vertretung für Tagesmütter in Buxtehude – Lüneburg packt das Problem an
„Die Jugendhilfeträger in Deutschland verhalten sich sehr unterschiedlich zu der gesetzlichen Verpflichtung“, sagt Heiko Krause, Geschäftsführer des Bundesverbands für Kindertagespflege in Berlin. Die Lage unterscheidet sich je nach Wohnort stark, ist in der Region aber in Bewegung geraten.
Besonders Lüneburg sticht durch ein neues Projekt für Stadt und Landkreis positiv hervor. Im Landkreis Stade und in Buxtehude wird es in absehbarer Zeit keine Vertretung geben. Der Landkreis Harburg will die Ersatzbetreuung verbessern. Im Bezirk Harburg gilt die Tagespflege insgesamt als Sorgenkind.
Den Löwenanteil der örtlichen Kinderbetreuung leisten die Kitas. Doch auch die Zahl der Tagespflege-Kinder ist nicht unerheblich. Tausende sind täglich bei Tagesmüttern oder -vätern untergebracht. Im Kreis Harburg waren im Jahr 2021 insgesamt 628 Kinder für die Tagespflege gemeldet, im Kreis Lüneburg 804 und im Kreis Stade 769. In ganz Niedersachsen sind es aktuell 22.354 Kinder. Hamburg weist keine Zahlen für den Bezirk Harburg aus, in der ganzen Stadt ist die Tagespflegedichte mit 2.921 Kindern gering.
Besonders hoch ist der Anteil der Kinder bis drei Jahre in der Tagespflege. Die Betreuungsform gilt wegen der familiären Atmosphäre als besonders geeignet für die ganz Kleinen.
Erster Schritt: Lüneburg setzt auf zentralen Vertretungsstützpunkt
So sieht es auch Sabine Pohlki – doch sie kennt auch die eingangs geschilderte Verzweiflung. Die Mutter einer bald dreijährigen Tochter musste besonders in der heißen Phase der Corona-Pandemie Ausfallzeiten ihrer Tagesmutter ausgleichen. Dank Homeoffice, flexiblen Arbeitszeiten und Großeltern vor Ort haben sie und ihr Mann die Betreuung stets gestemmt. Allerdings unter großer Anstrengung mit langen Arbeitsabenden und wenig Schlaf, wie sich berichtet.
Während Kitas den Ausfall von Erziehern in der Regel ausgleichen können und lediglich in Gesundheitsnotlagen schließen müssen, bedeutet ein Krankheitsfall in der Tagespflege auch über Corona-, RSV- oder Grippewellen hinaus häufig, dass Eltern auf sich allein gestellt sind.
Denn nicht jede Tagesmutter oder jeder Tagesvater hat auf eigene Faust eine verlässliche Vertretung organisiert. „Unsere Tagesmutter ist ganz toll und ich würde nichts anderes für Henrikjie wollen“, sagt Sabine Pohlki, die als Bauzeichnerin bei der Stadt Lüneburg beschäftigt ist. „Aber das hat uns wirklich einige Male ins Schwitzen gebracht.“
Als sich Henrikjes Tagesmutter im November erneut aus gesundheitlichen Gründen abmelden muss, erinnert sich Sabine Pohlki an einen Zeitungsbericht über einen neuen Vertretungsstützpunkt in Lüneburg. Und einen Anruf später geht alles ganz schnell: Am gleichen Tag schnuppern Mutter und Tochter bei der Vertretungstagesmutter rein. „Mir war es wichtig, dass es zwischen uns passt und dass Henrikje sich wohlfühlt“, so Pohlki. Am darauffolgenden Tag soll ihre Tochter eigentlich für drei Stunden in die Notbetreuung gehen, bleibt aber auf eigenen Wunsch den ganzen Tag. „Wir sind sehr froh über diese Möglichkeit “, sagt die entlastete Mutter.
So funktioniert das Vertretungsmodell für die Tagespflege
In Lüneburg ist ab sofort die Vertretungstagesmutter Yvonne Boye zentrale Anlaufstelle für Notfälle in und um Lüneburg. Wie eine klassische Tagespflegeperson nimmt sie Kinder in ihren eigenen Räumen in der Lüneburger Innenstadt auf. Kontakt können Eltern direkt mit Yvonne Boye oder über das Familienbüro aufnehmen. Bis zu fünf Kinder darf sie gleichzeitig betreuen.
Für Eltern ist das Angebot kostenlos. Stadt und Landkreis Lüneburg zahlen für den Vertretungsservice, den das gemeinsame Familienbüro ins Leben gerufen hat. Für den Standort sind Fixkosten von rund 23.500 Euro eingeplant. Hinzu kommen weitere Kosten, die von der tatsächlichen Nutzung abhängen.
„Mein Team hat sehr viel Herzblut in das Projekt gesteckt und auch Rückschläge auf dem Weg kassiert“, sagt Thomas Michel, Leiter des Familienbüros. Vor etwa drei Jahren begann die Arbeit an dem Projekt, für das die Verwaltungsmitarbeiter die andernorts praktizierten Vertretungsmodelle unter Lupe nahmen. Gängig sind neben der Standortlösung auch mobile Springervarianten sowie die Zusammenarbeit mit Kitas oder Großtagespflegestellen, die dauerhaft Plätze für die Notbetreuung freihalten. Untereinander und ohne Gewähr organisieren Tagespflegepersonen auch gegenseitige Vertretungen als Tandem oder Vertretungsgruppe.
Auch im Landkreis herrscht Bedarf: Weitere Stützpunkte geplant
„Für den Stützpunkt haben wir aus rechtlichen Gründen entschieden“, sagt Thomas Michel. So habe das Rechtsamt Bedenken an einer Springerlösung geäußert, die daraufhin verworfen wurde. Letztlich habe ein Modellprojekt in Zeven stark als Vorbild gedient.
Einer fehlenden örtlichen Flexibilität der Standort-Lösung will das Familienbüro mit bis zu zwei weiteren Vertretungsstützpunkten im Landkreis begegnen. „Wir haben festgestellt, dass auch im Landkreis Bedarf vorhanden ist.“ Zuerst soll die Nachfrage in Lüneburg beobachtet und bewertet werden. Um der besonderen Stresssituation für Kinder zu begegnen, werden Vertretungskräfte wie Yvonne Boye im Auftrag des Familienbüros extra geschult. Außerdem sind Kontaktmöglichkeiten ein wichtiger Baustein, um ein Kennenlernen zu gewährleisten.
„Gegenseitige Vertretung ist nicht bei allen Tagespflegepersonen gegeben“
Der Grund für die Errichtung des kommunalen Vertretungsstützpunkt benennt Thomas Michel deutlich: „Wir haben den gesetzlichen Auftrag dafür und eine gegenseitige Vertretung ist nicht bei allen Tagespflegepersonen gegeben.“
Auch Heiko Krause vom Bundesverband für Kindertagespflege verweist auf die Vorgaben des Gesetzgebers: „Es ist gesetzliche Pflicht für den jeweiligen Jugendhilfeträger, ein Vertretungsangebot zu schaffen.“ Gemeint ist Paragraf 23 Abs. 4 VIII im Sozialgesetzbuch. Adressiert an die Kommunen stehe dort geschrieben: „Für Ausfallzeiten einer Kindertagespflegeperson ist rechtzeitig eine andere Betreuungsmöglichkeit für das Kind sicherzustellen.“
Trotz dessen ist das Lüneburger Vertretungsangebot in seiner Form einzigartig in der Region. Wie die Landkreise Harburg und Stade, der Bezirk Harburg und Buxtehude mit der Pflicht zur Vertretung umgehen und fehlende Angebote rechtfertigen, lesen Sie weiter hinten im Text.
Dass viele Jugendämter nicht für eine systematische Vertretung sorgen, führt Heiko Krause auch auf die Kosten zurück. „Ein Vertretungsmodell ist für lau nicht zu haben“, sagt er. Eine gute Umsetzung würde auch voraussetzen, dass es bezahlte Kontaktstunden gibt. Zum Beispiel würde ein Springer Besuche bei Tagesmüttern und -vätern machen, um mit den Kindern und Eltern in Kontakt zu kommen. „Wie genau der einzelne Jugendhilfeträger für eine Vertretung sorgt, ist ihm freigestellt.“
So ist die Lage im Kreis Harburg und Bezirk Harburg
Harburg/Landkreis Harburg. Die Vertretung von Tagesmütter und -vätern ist im Landkreis Harburg uneinheitlich organisiert. Eine flächendeckende Lösung gibt es nicht, sodass sich das Angebot je nach Wohnort stark unterscheidet. Zuständig für alle Städte und Gemeinden ist die Kreisverwaltung als Jugendhilfeträger.
In Buchholz gibt es eine Vertretungskraft, die in zwei Großtagespflegestellen vertritt. Außerdem gibt es eine Vertretungskraft, die eine allein tätige Kindertagespflegeperson vertritt. In Seevetal ist eine Vertretungskraft für zwei Großtagespflegestellen vorhanden. Auch in Tostedt und in der Elbmarsch werden Vertretungslösungen praktiziert. Beispielsweise in Neu Wulmstorf gibt es derzeit beispielsweise noch keine Vertretungslösung.
Angesprochen auf die gesetzliche Pflicht antwortet Kreissprecherin Katja Bendig: „Kindertagespflegepersonen sind in der Regel freiberuflich tätig. In diesem Rahmen ist es nicht möglich, konkrete Vorgaben zu machen.“ Ähnlich argumentieren die Jugendämter in Buxtehude und Stade. Zudem erfordere jedes Vertretungsmodell eine große KooperationsbereitschaftunterdenBeteiligten. DasLüneburger Familienbüro setzt bei seinem Stützpunkt auf eine feste Kooperation mit einer freiberuflichen Vertretungskraft.
Landkreis Harburg verfolgt mehrere Ansätze, um das Problem zu lösen
Der Kreis verfolgt mehrere Ansätze, um die Ersatzbetreuung in der Tagespflege auszubauen und zu optimieren. Unter anderem läuft ein Projekt zu einer Springerlösung. Martina Menzel ist bei der Kreisverwaltung für besondere Leistungen für Kinder und Jugendliche zuständig und sagt: „In Sachen Vertretungsfrage ist bei uns viel in Bewegung geraten.“ In pädagogischer Hinsicht ist ihr wichtig, dass die Eingewöhnung gerade kleiner Kinder auch im Vertretungsfall nicht auf der Strecke bleibt. „Das ist das A und O.“
Menzel hält einenStützpunktwie in Lüneburg im städtischen Bereich auch im Landkreis Harburg für möglich und sinnvoll. Auf dem Land, wo nur wenige Tagespflegepersonen tätig seien, müssten anderen Formen gefunden werden. Der Kreis hat kürzlich die Stundensätze in der Kindertagespflege erhöht und sucht nach weiteren Fachkräften.
Eine Frage der Kosten sei die Vertretung in der Tagespflege im Kreis Harburg nicht. Geklärt werden müsse allerdings, ob eine präventive Vertretungslösung wie in Lüneburg mit dem Gesetz vereinbar sei und ob die Satzung des Kreises angepasst werden müsste. Auch derfreiberufliche Status der Tagespflegepersonen sei eineProblemstellung für die Verwaltung. Eine Tagespflegekraft fest zu beschäftigten, komme einer Scheinselbstständigkeit gleich.
Ersatzbetreuung im Bezirk Harburg soll neu organisiert werden
Die rechtlichen Fragen gehörten beim Lüneburger Projekt zu den „größten Hürden“ der dreijährigen Vorarbeit,wie Lüneburgs Familienbüroleiter Thomas Michel sagt.
Der Bezirk Harburg hält seine Antwort allgemein: „Die Vertretung in der Kindertagespflege wird in Hamburg über mobile Vertretungskräfte gewährleistet“, lässt Sprecher Dennis Imhäuser das Abendblatt ohne Bezug zur konkreten Lage in Harburg wissen. Derzeit seien sowohl feste Vertretungskräfte als auch Springerkräfte im Einsatz.
Von einem funktionierenden System ist derzeit nicht auszugehen, denn das System der Vertretung in der Kindertagespflege soll nach Angaben der Sozialbehörde in der ganzen Stadt neu organisiert werden. Nachdem ein Modellstützpunkt in Langenhorn aufgrund mangelnder Akzeptanz und Nutzung gescheitert ist, will die Stadt zunächst im ersten Quartal die Kindertagespflege als solche mit mehr Geld und besserer Organisation auf Vordermann bringen. Die Vertretungsfrage soll in einem zweiten Schritt besser aufgestellt werden.
Einem aktuellen Merkblatt für Eltern und Tagespflegepersonen in der Hansestadt ist zu entnehmen, dass die Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration die Tagesmütter- und -väter für eine individuelle Vertretungslösung in die Pflicht nimmt.
So ist die Lage in Buxtehude und im Kreis Stade
Im Raum Stade und Buxtehude existiert kein organisiertes Vertretungskonzept. Ein Aufbau eines Systems für die Ersatzbetreuung in der Tagespflege ist auch nicht in Arbeit oder in Planung. Für den gesamten Landkreis Stade ist die Kreisverwaltung als Jugendhilfeträger für die Kinderbetreuung zuständig. Ausnahme ist die Stadt Buxtehude, wo das Jugendamt mit der Fachgruppe Jugend und Familie verantwortlich ist.
Hinsichtlich der gesetzlichen Verpflichtung antwortet Andrea Lange-Reichardt, Buxtehudes Fachgruppenleiterin Jugend und Familie: „Das Thema ist mit dem Tagespflegeelternverein vor Jahren angesprochen worden, bei den Tagespflegepersonen hat sich hierzu aber kein hoher Handlungsbedarf ergeben.“ Auch durch die Elternschaft seien bislang keine Erwartungshaltungen formuliert worden. Auch der Landkreis Stade berichtet von fehlendem Bedarf.
Auf Abendblatt-Nachfrage sagt Sabrina Lenk vom Buxtehuder Tagesmütterverein (Tagesmütter und Pflegeeltern Buxtehude/Landkreis Stade): „Es gibt definitiv Bedarf. Wir würden uns über eine gut finanzierte, gut organisierte und umsetzbare Vertretungslösung freuen.“ Eine zulässige Praxis sei das Vorgehen von Stadt und Kreis ohnehin nicht, wie Heiko Krause vom Bundesverband für Kindertagespflege sagt: „Eine Verwaltung kann sich nicht einfach auf fehlenden Bedarf berufen.Wir als Bundesverband erwarten, dass der gesetzlichen Pflicht einer Vertretungsangebot nachgekommen wird.“
Bezüglich einer Springertätigkeit verweist AndreaLange-Reichardt auf eine geringe Bereitschaft von Tagespflegepersonen. Außerdem seien „die meisten Tagespflegestellen hinsichtlich ihrer Kapazität ausgelastet“, kurzfristig also selten Plätze frei. Ein Problem, das beispielsweise Lüneburg durch einen kommunal finanzierten Stützpunkt versucht zu lösen.
Grundsätzlich hält die Buxtehuder Jugendamtsleiterin einen kurzfristigen Betreuungswechsel bei Kindern unter drei Jahren für problematisch. Ähnlich Bedenken äußert die zuständige Abteilungsleiterin beim Landkreis Harburg.
Landkreis Stade verweist auf Selbstorganisation und örtliche Servicebüros
Der Landkreis Stade führt neben der ausbleibenden Nachfrage die eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Tagesmütter und -väter an. „Der Einfluss des Landkreises Stade auf die einzelnen Tagespflegestellen ist gering“, antwortet Kreissprecherin Nina Dede auf Abendblatt-Nachfrage. Ähnlich argumentiert der Landkreis Harburg. Das Lüneburger Familienbüro setzt bei seinem Stützpunkt auf eine feste Kooperation mit einer freiberuflichen Vertretungskraft in ihren eigenen Räumen. V
Vom Kreis Stade heißt es, die Familienservicebüros der Gemeinden/Samtgemeinden beziehungsweise der Stadt Stade seien gefordert, da diese Belegung und Vertretungsanforderungen vor Ort koordinierten. Darüber hinaus antwortet Nina Dede: „In den meisten Gemeinden vernetzen sich die Tagespflegepersonen und helfen sich untereinander aus.“ Ein Argument, das Heiko Krause vor dem gesetzlichen Hintergrund ebenfalls nicht gelten lassen will: „Die Jugendämter dürfen die Organisation nicht den einzelnen Tagespflegepersonen überlassen.“