Hittfeld. Der Fachkräftemangel in Kitas belastet Kinder, Eltern und Erzieher gleichermaßen. Und es könnte noch schlimmer kommen.
Hoffentlich meldet sich niemand krank! Dieser bange Gedanke begleitet Paulina Bischoff täglich. Denn wenn ein Mitglied des Erzieherteams der Hittfelder DRK-Kita Am Redder unplanmäßig ausfällt, muss die Leiterin die pädagogische Besetzung im Krippen- und Elementarbereich umstellen. Und das fällt angesichts der dünnen Personaldecke oft schwer.
Mit diesem Problem steht die Kita Am Redder keineswegs allein. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung fehlen niedersachsenweit rund 2.400 Fachkräfte, um 2023 alle Kita-Plätze mit Personalschlüsseln nach wissenschaftlichen Empfehlungen auszustatten. Aus einer Umfrage der Diakonie Niedersachsen bei 700 Kitas der Landeskirche Hannover geht hervor, dass 75 Prozent der Einrichtungen aufgrund des aktuellen Fachkräftemangels Stellen nicht besetzen können. Die Hälfte aller befragten Kindertagesstätten gaben zudem an, aufgrund der aktuellen Situation bereits die Kernbetreuungszeiten kürzen zu müssen.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Paulina Bischoff zuweilen eine Gruppe buchstäblich von heute auf morgen für Stunden oder sogar Tage schließen muss. Für die Eltern beginnt nach jeder Hiobsbotschaft aus dem Kindergarten eine hektische Suche nach alternativen Betreuungsmöglichkeiten im Verwandten- und Freundeskreis. Bleibt sie erfolglos, was meist der Fall ist, muss Mutter oder Vater sich selbst krank melden und zu Hause bleiben, mit schlechtem Gewissen den Kollegen gegenüber und mit Wut im Bauch gegen die Kitaleitung.
Jeder im Hittfelder Team hat große Skrupel, sich krank zu melden
Dabei betrifft das Dilemma ja auch das Betreuerteam selbst. Jeder im Team habe im Hinblick auf die problematische Situation für Eltern und Mitarbeiter große Skrupel, sich krank zu melden, erklärt Paulina Bischoff.
Das erhöhe den ohnehin hohen Druck durch die große psychische und physische Belastung in diesem Beruf erheblich. Die Personalnot trägt somit zum hohen Krankenstand bei und verstärkt sie zusätzlich. Ein Teufelskreis. Denn die fatale Wechselwirkung erschwert die Bindung der vorhandenen Mitarbeiter und erst recht die Gewinnung neuer Fachkräfte.
Pro Gruppe braucht es einen Erzieher und eine pädagogische Assistenzkraft
Wenn Paulina Bischoffs eigener Sohn das Bett hüten muss, bittet sie ihre Mutter, seine Pflege zu übernehmen. „Ich kann es mir einfach nicht leisten, hier zu fehlen. Ich bin ja eine von nur vier Erzieherinnen im Team und wir haben drei Gruppen.“ Zwar arbeiten zusätzlich engagierte Sozialpädagogische Assistenten Am Redder.
Nur dürfen diese SPAs, wie sie genannt werden, nicht selbstständig eine Gruppe leiten. Pro Gruppe braucht es einen Erzieher und eine pädagogische Assistenzkraft, so will es das Gesetz.
Aus der Not geborenes Personalkarussell
Nicht einmal ihre erfahrenste SPA, die mittlerweile 13 Jahre Berufserfahrung habe und die Liebe der Kinder sowie das Vertrauen der Eltern genösse, dürfe im Notfall einspringen, berichtet Paulina Bischoff. Stattdessen muss sie sich mit der Bitte um Erzieher-Aushilfe an die benachbarten Kitas wenden. „Zum Glück haben wir hier viele DRK-Kindergärten zum Austausch“, sagt sie.
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Für die Kinder indes bedeutet das aus der Not geborene Personalkarussell ständig wechselnde Bezugspersonen. Besonders für die Krippenkinder ist das schwierig. „Es ist ermüdend für alle Beteiligten“, sagt Paulina Bischoff.
Anja Linge, deren zweites Kind derzeit die Kita Am Redder besucht, legt sehr wohl großen Wert auf eine qualitativ hochwertige Betreuung. Trotzdem kann sie angesichts der aktuellen Situation nicht verstehen, dass an der Vorgabe zwingender Anwesenheit einer voll ausgebildeten Erzieherin pro Gruppe festgehalten wird.
Sie glaubt, dass es für die Kinder allemal besser wäre, in der Kita von einer vertrauten SPA mit Gleichaltrigen betreut zu werden, als zu Hause allein vor dem Fernseher zu sitzen, weil Mutter oder Vater versuchen, im Homeoffice zu arbeiten. „Und wer diese Möglichkeit hat, ist ja noch privilegiert. Eine allein erziehende Krankenschwester kann das nicht.“
Es braucht eine Lösung, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicher zu stellen
Es brauche eine Lösung, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicher zu stellen, und zwar jetzt, fordert Anja Linge. Sie hat sich inzwischen schriftlich an die Gemeinde Seevetal, den DRK-Kreisverband Harburg-Land und den Landtagsabgeordneten Bernd Althusmann gewandt. Des Weiteren hat sie Kontakt zur Janine Herzberger aufgenommen. Die Winsenerin ist zweite Vorsitzende der Kita-Landeselternvertretung Niedersachsen und strebt im März ein Treffen mit der niedersächsischen Kultusministerin Julia Willie Hamburg an.
„Eltern mit Kitakindern aus Niedersachsen können sich unter der Mailadresse vorstand@kita-lev-nds.de bei uns melden. Wir haben bereits ein gutes Netzwerk, freuen uns aber auf noch viele weitere engagierte Mitstreiter, denn nur gemeinsam bewirken wir etwas“, appelliert Janine Herzberger.
Paulina Bischoff sieht es positiv, dass sich Elternprotest formiert. Sie brennt für ihre Profession und leidet darunter, dem Bildungsauftrag der Kita im Notbetrieb nicht gerecht werden zu können. Auch Janik Kretschmer stört, dass die Personalnot Kreativität stark einschränkt. „Bastelangebote, Projekte, Bewegungsprogramm: Das, was den Kindern und uns Betreuern am meisten Spaß macht, bliebt viel zu oft auf der Strecke“, sagt der 24-Jährige. Das einzige männliche Teammitglied Am Redder, von den Kindern heiß geliebt, steht als Gruppenleiter nicht zur Verfügung. Er ist SPA und wird es auch bleiben.
Ausbildung zum Erzieher wäre lang und käme teuer zu stehen
Denn eine Ausbildung zum Erzieher wäre lang und käme ihn teuer zu stehen. Er hätte die Wahl zwischen zwei Jahren Tagesunterricht ohne jedes Einkommen oder drei Jahren berufsbegleitender Ausbildung mit Abendschule, wobei er seine Arbeitszeit und damit seinen Verdienst deutlich reduzieren müsste. „Ich kann mir die Ausbildung gar nicht leisten“, sagt er.
Dass auch „nur“ mit SPA besetzte Gruppen funktionieren, hat sich während der Corona-Pandemie gezeigt. Bis zum vergangenen Sommer war der Fachkraftschlüssel angesichts der Seuche ausgesetzt. Seither jedoch müssen wieder zwingend Erzieher an die Stelle erkrankter Erzieher treten. Es sei denn, die erkrankte Person leidet an Covid 19. In diesem Fall - und nur dann – darf sie auch durch Sozialpädagogische Assistenten vertreten werden. Nicht nur Paulina Bischoff findet das absurd.
Menschen, die meilenweit von der Praxis entfernt sind
„Solche Verordnungen können nur von Menschen gemacht sein, die meilenweit von der Praxis entfernt sind“, sagt Britta Dibbern, Abteilungsleiterin der DRK-Kindertagesstätten im Landkreis Harburg.
Eine weitere fragwürdige Regelung wird ab 2025 gelten. Dann müssen in Krippengruppen drei anstatt wie bisher zwei pädagogische Fachkräfte eingesetzt werden. Zunächst klingt das positiv, nach höher qualifiziertem Bildungsangebot. Aber der sicherlich gut gemeinte Vorstoß könnte in der Praxis das Gegenteil bewirken und zum Verlust von Kitaplätzen führen.
Denn zurzeit weiß niemand, wo die für die Erfüllung der neuen Auflage zusätzlich nötigen Betreuer herkommen sollen. Sie müssten ja heute bereits ihre Ausbildung begonnen haben. Es ist also gut möglich, dass Paulina Bischoff und andere Kitaleiterinnen in den kommenden Jahren noch öfter als heute Gruppen schließen müssen, weil sie nicht genügend Personal haben.