Rüstjer Forst. Eigentlich wollte sie nur das Waldbaden ausprobieren. Doch dann wird unsere Reporterin von Erinnerungen überwältigt – und einer Erkenntnis.
- Dass Wälder eine therapeutische Wirkung auf Menschen haben, ist bekannt
- Aber waren Sie selbst eigentlich schon einmal Waldbaden?
- Unsere Autorin hat den Test gemacht – und berührende Momente erlebt
Der Stimmungsumschwung kommt plötzlich, wie aus dem Nichts, völlig unerwartet. Wir gehen – nein: wir schleichen – im Schneckentempo einen schmalen Waldweg entlang und schauen dabei auf den Boden, so wie Birte Schmetjen, Forstwissenschaftlerin, Waldpädagogin und unsere Trainerin beim Waldbaden, es gesagt hat.
So zu schreiten mit gesenkten Blick, das macht man selten. Eigentlich fast nie. Nur bei Begräbnissen. Mit diesem Gedanken ist plötzlich und mit voller Wucht die Erinnerung an den Tod des Vaters da – an den Mann, der den Wald liebte und diese Leidenschaft so gut mit seinen Kindern teilen konnte. Von nun an geht er mit durch den Rüstjer Forst. Und die Teilnahme am „Schnupper-Waldbaden“ in dem großen Waldgebiet bei Helmste im Landkreis Stade ist nicht länger nur irgendein Termin für eine entspannte Reportage. Sie wird persönlich.
Waldbaden? Der Vater hätte mein Vorhaben bestimmt erstmal belächelt
Wobei: Der Vater hätte diese Aktion wahrscheinlich zunächst belächelt und irgendeinen Scherz darüber gemacht, wie: „In welchen Tümpel springt ihr denn?“ Obwohl ihm klar war, dass Waldbaden nichts mit Schwimmen zu tun hat, sondern mit dem Eintauchen ins grüne Meer des Waldes, das er als so wohltuend empfand.
Auch wir wollen für ein paar Stunden abtauchen, und Birte Schwetjens ist dabei unsere „Bademeisterin“. Sie betreibt in Deinste das Unternehmen Waldwohl, mit dem sie in Zusammenarbeit mit den Niedersächsischen Landesforsten Gesundheitsangebote im Wald sowie Ausbildung in diesem Bereich anbietet.
Acht Personen haben sich zum Schnupper-Waldbad angemeldet – sieben Frauen und ein Mann. Wir stellen uns reihum mit Vornamen vor. „Das Unterbewusstsein mag kein Siezen. Und das wollen wir heute ja ansprechen“, sagt Birte Schmetjen.
Waldbaden im Rüstjer Forst: Akku aufladen und Kraft tanken
Sie fragt nach den Gründen für unsere Teilnahme und erfährt, dass eigentlich alle im Wald das gleiche suchen: Die Teilnehmenden möchten Abstand von der alltäglichen Hektik gewinnen und Ruhe finden. Sie möchten ihren Akku aufladen und Kraft tanken. Manchmal spielen weitere Gründe eine Rolle: „Vielleicht will ich mich beim Wald entschuldigen“, sagt Jörn aus Harsefeld und liefert die Begründung: „Ich handele mit Brennholz.“
Ausdauersportlerin Meike läuft sonst immer gegen die Uhr über die Waldwege an ihrem Wohnort und möchte erfahren, wie sie die gesundheitliche Wirkung des Waldes noch besser für sich nutzen kann. Und die 16-jährige Sophie aus Hamburg wurde von ihrer Tante „mitgeschleppt“. „Ich bin sonst nur in der Stadt unterwegs und fast nie im Wald“, sagt die junge Elektronikerin. „Mal gucken, ob ich die Ruhe und die gute Luft hier aushalten kann.“
Also hinein in die volle Sauerstoffdröhnung. „Waldluft ist gesund, weil sich in ihr bis zu 90 Prozent weniger Staubpartikel befinden als in der verschmutzten Stadtluft“, erklärt Birte Schmetjen. Wir sollen die Auszeit im Wald bewusst wahrnehmen, mit weit geöffneten Sinnen, empfiehlt sie: „Schaut, hört, riecht und fühlt. Das wird euch gut tun.“ Schließlich sei der Wald über viele Jahrtausenden unser natürlicher Lebensraum gewesen: „So, wie wir jetzt leben, leben wir erst seit einem Wimpernschlag der Geschichte“, sagt die Forstwissenschaftlerin. Und diese moderne Lebensweise bringe halt einige gesundheitliche Risiken mit sich: Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes, Burnout, Depression – die Liste mit den sogenannten Zivilisationskrankheiten ließe sich fortführen.
Dass ein Aufenthalt im Wald positiv auf die Gesundheit wirkt, ist tatsächlich messbar
Und gegen all das soll Waldbaden helfen? Die Wissenschaft kann tatsächlich messen, dass ein Aufenthalt im Wald positiv auf unseren Körper und unsere Psyche wirkt. Das Immunsystem wird gestärkt, Blutdruck und Puls sinken messbar, es werden weniger Stresshormone wie Cortisol oder Adrenalin ausgeschüttet, dafür mehr sogenannte Glückshormone.
Eine amerikanische Studie zeigt, dass bereits 20 Minuten im Wald positiv gegen Stress wirken sollen. Unsere Gruppe benötigt aber solche wissenschaftlichen Belege eigentlich gar nicht. Alle haben schon erlebt, dass sich ein Waldspaziergang positiv auf das Befinden auswirkt. Deshalb sind wir hier und darauf wollen wir aufbauen.
Waldbaden im Landkreis Stade: Entspannung für unsere gestressten Bildschirm-Augen
Birte Schmetjen führt uns sanft hinein in den „Wald-Flow“, etwa mit kleinen Übungen zur Schulung der Aufmerksamkeit oder aus den Bereichen des Achtsamkeitstrainings und der Meditation. Wir laufen mit einem kleinen Spiegel durch den Wald, um neue Perspektiven zu erlangen und trainieren die Entspannung unserer gestressten Bildschirm-Augen.
Zwischendurch wird überraschend viel gelacht und geplaudert. Försterin Schmetjen beantwortet Fragen zum Wald und zu seinen Bewohnern aus Flora und Fauna. Sie macht uns auf die Stängel des zunächst unscheinbar erscheinenden Sauerklees aufmerksam, die lila, zart-rosa oder in krassem Pink leuchten. Und sie führt uns zu den „Duftbäumen“ im Rüstjer Forst: riesige Küsten-Kiefern, deren Harz einen intensiven und wohltuenden Geruch verströmt und für sehr klebrige Finger sorgt. Unter Schmetjens Anleitung zerreiben wir die Nadel einer mächtigen Douglasie, die nach Zitrone riecht. Wir bewundern und berühren die von tiefen Rissen durchzogene Borke des älteren Baumes und verspüren Respekt und Verbundenheit – auch ohne ihn zu umarmen.
Manche legen sich ins Moos, andere hocken auf einem Baumstumpf
Und dann kommt das Schlendern mit gesenktem Kopf und die unerwartete emotionale Reaktion darauf. Gut, dass Birte Schmetjen uns im Anschluss daran in die sogenannte Solo-Zeit schickt, bei der jeder für sich sein kann. Manche legen sich ins Moos, andere hocken auf einem Baumstumpf oder lehnen sich gegen einen Stamm. Es ist schön, minutenlang allein dazusitzen, den Geräuschen des Waldes zu lauschen und seine Düfte zu inhalieren.
Beim Blick auf eine Ameise wird eine frühe Kindheitserinnerung wach: Wie der Vater bei einem Waldspaziergang ein Taschentuch knapp über einen Ameisenhaufen hielt und uns Kinder anschließend die beißende Ameisensäure am Taschentuch erschnuppern ließ. Birte Schmetjen löst die Solo-Zeit auf. Und die Traurigkeit verfliegt mit einem Satz der Waldpädagogin: „Wie schön, dass du einen so tollen Vater hattest“, sagt sie. Die Melancholie weicht einer tiefen Dankbarkeit.
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Achtung, wichtige Info: Waldbaden kann süchtig machen
Wir trotten zurück, die Füße sinken im weichen Moos ein. Das Waldbaden ist beendet. Niemand hat es eilig, keiner hetzt zurück zum Parkplatz oder verabschiedet sich hektisch. Birte Schmetjen weist noch auf mögliche Nebenwirkungen hin: „Kann sein, dass ihr heute sehr schnell müde werdet und euer Schlaf tiefer ist als sonst.“
Wir halten alle ein Kärtchen in der Hand, auf das wir kleine Erinnerungen aus dem Wald geklebt haben und freuen uns daran wie Kindergartenkinder. Die Karte steht noch auf dem Schreibtisch und mit jedem Blick darauf ruft der Wald. Aber auch darauf hatte Birte Schmetjens ja hingewiesen: Waldbaden kann süchtig machen.