Jesteburg. Pflege in Not – der AHD, größter Träger in der Region – ist in der Insolvenz. Wie geht es weiter? Ein Gespräch mit dem Chef.

Von den rund 252.000 Bewohnern des Landkreises Harburg ist rund ein Viertel über 65 Jahre alt. Ein steigender Anteil dieser Älteren benötigt Pflege. Doch nun ist die Pflege selbst in Not geraten. Wie berichtet, wurde am 1. August das Insolvenzverfahren über den Ambulanten Hauspflegedienst (AHD) Jesteburg und den AHD solewo (Jesteburger Hof) eröffnet. Der AHD ist mit seinen 200 Mitarbeitern der größte der 32 Pflegedienste im Landkreis Harburg und galt bisher als Branchenprimus. Wie konnte das Unternehmen in die finanzielle Schieflage geraten? Was bedeutet das für die rund 800 vom AHD betreuten Senioren? Und wie ist die Perspektive für alle, die in künftigen Jahren auf Pflege angewiesen sein könnten? Das Hamburger Abendblatt sprach mit Ole Bernatzki, Geschäftsführer des AHD.

Abendblatt: Sie betreiben eine Insolvenz in Eigenregie. Was bedeutet das und was ist Ihr Ziel?

Ole Bernatzki: Der AHD bleibt in Eigenverantwortung und unter Kontrolle der Geschäftsführung. Ein Sachwalter wird dem Unternehmer zur Seite gestellt, der beobachtet und berät, aber selbst nicht eingreift. Ziel ist die wirtschaftliche Sanierung des Unternehmens, nicht dessen Auflösung. Wir werden bei der Abwicklung der Insolvenz von einer erfahrenen Beratungsgesellschaft unterstützt.

AHD hat eine Mehrbelastung von rund 90.000 Euro im Monat

Der AHD gilt als Vorzeigebetrieb. Wie konnte es zur Insolvenz kommen?

Bernatzki: Auslöser der Finanzkrise auf dem Pflegemarkt, von der auch andere Anbieter betroffen sind, war das 2021 verabschiedete Tariftreuegesetz, das Pflegeheime und ambulante Pflegedienste verpflichtet, ihre Mitarbeiter nach ortsüblichem Tarif zu bezahlen. Das bedeutet für den AHD eine Mehrbelastung von rund 90.000 Euro im Monat. Über die Refinanzierung der Kosten verhandeln die Pflegeunternehmer selbst mit den Krankenkassen. Aber das, was die Kassen uns Pflegeunternehmen erstatten, reicht nicht, um die Lohnerhöhung zu finanzieren.

Firmenchef Ole Bernatzki vor der AHD-Unternehmenszentrale in Jesteburg.
Firmenchef Ole Bernatzki vor der AHD-Unternehmenszentrale in Jesteburg. © HA | nanette franke

Den Insolvenzantrag hatten Sie bereits am 1. April gestellt. Was ist seither geschehen?

Bernatzki: In den ersten drei Monaten wurden die Löhne und Gehälter von der Bundesanstalt für Arbeit übernommen. Seit August fahren wir wieder unter Volllast und müssen nun darstellen, dass wir eine schwarze Null oder sogar eine grüne Eins erwirtschaften können. Wir haben viele Analysen durchgeführt. Mitarbeiter, die gehen wollten, haben wir nicht aufgehalten. Wir haben Büros vor Ort geschlossen und die teilstationäre Tagespflege, die wir in Jesteburg Bispingen und Ashausen betreiben, höher ausgelastet. Auch haben wir den Personalschlüssel verändert. Wenn beispielsweise vorher eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter für vier Patienten zuständig war, sind es jetzt fünf. Die Pflegetouren werden anders organisiert. Der Verwaltungsaufwand wird reduziert, indem wir mehr auf digitaler Ebene machen, was allerdings angesichts des hohen Dokumentationsbedarfs der Krankenkassen an Grenzen stößt. Kurzum: Wir versuchen, pflegerische Versorgung neu zu denken. Da wir bisher immer Vorreiter der ambulanten Pflege im Landkreis waren, denken wir, dass wir einen Weg finden werden, zufriedenstellende Lösungen für beide Seiten, also für Pfleger und Gepflegte, zu finden. Wie unsere Insolvenz-Berater sagen, sind wir dabei auf einem guten Weg und hoffen, die Insolvenz zum Jahresende abgeschlossen zu haben.

Haben Sie denn schon neue Abschlüsse mit den Krankenkassen erzielt?

Bernatzki: Für die Tagespflege haben wir einen neuen Abschluss erzielt. Für die ambulante Hauspflege verhandeln wir seit Anfang April, bisher ohne Ergebnis. Was die Kassen beim AHD bemängeln, ist eine zu hohe Quote an Fachpflegern. 50 Prozent unseres Pflegepersonals hat einen Fachabschluss. Gut ausgebildete Kräfte sichern nicht nur einen hohen Standard. Sie stellen auch sicher, dass andere Versorgungseinrichtungen wie zum Beispiel Hausärzte und die ohnehin überlasteten Notaufnahmen der Krankenhäuser nicht unnötig herangezogen werden. Solange wir können, halten wir vom AHD an unserem Anspruch fest, unsere Patienten professionell, individuell und menschlich zu pflegen. Gleichzeitig müssen wir Prozesse anpassen und effektiver werden. Wir werden weitere Einschnitte haben. Aber wir verkaufen nicht unsere Werte.

Wer einmal weg ist aus der Pflege, der kommt nicht wieder

Werden ihre Mitarbeiter da mitziehen?

Bernatzki: Unsere Mitarbeiter unterstützen uns in jeder Hinsicht und sind hoch motiviert. Das ist umso mehr anzuerkennen vor dem Hintergrund, dass sie im benachbarten Hamburg aufgrund höherer Leistungen der Krankenkassen mehr verdienen könnten als hier in Niedersachsen. Wahr ist aber auch, dass die jetzige Entwicklung nicht dazu beiträgt, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass wir in diesem Jahr nur zwei neue Auszubildende aufgenommen haben. Mehr haben sich nicht beworben. Arbeitskräfte aus der Pflege sind hoch begehrt in der Wirtschaft, denn sie können viel leisten, werden nicht so schnell krank, sind Wochenendarbeit gewohnt, haben einen guten Überblick. Unsere Erfahrung zeigt: Wer einmal weg ist aus der Pflege, der kommt nicht wieder.

Nicht nur der AHD, auch andere Pflegeunternehmen im Landkreis arbeiten unter diesen Bedingungen. Haben Sie schon Rückmeldung von diesen Unternehmen?

Bernatzki: Es gibt das regionale Aktionsbündnis Pflegestop.de. Ein Brandbrief dieses Bündnisses wurde bereits von einigen Betrieben aus der Region unterzeichnet und richtet sich an Landräte, Kreistagsmitglieder, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Gemeinderatsmitglieder. Aber insgesamt ist die Resonanz eher enttäuschend. Entgegen dem, was wir im April erwartet hatten, sind es nicht die ambulanten Pflegedienstleister, die zuerst insolvent werden, sondern die Pflegeheime, auch im Landkreis Harburg. Wenn diese Heime, wie jetzt in Neu Wulmstorf, geschlossen werden, wissen viele pflegebedürftige Senioren nicht mehr, wohin. Tagespflege in stationären Einrichtungen, bei der die Senioren morgens abgeholt werden und abends wieder nach Hause kommen, und häusliche Pflege, bei der unsere Mitarbeiter zu den Senioren nach Hause fahren, können einen Heimaufenthalt hinauszögern oder verhindern. Aber sie werden von den Kassen nur unzureichend finanziert.

Sorge, dass gute Pflege zukünftig nicht mehr bezahlbar sein wird

Was bedeutet das für Senioren?

Bernatzki: Ich habe große Sorge, dass gute Pflege zukünftig nicht mehr bezahlbar sein wird. Die Folgen werden wir alle spüren.

Bekommen Sie Unterstützung aus der Politik?

Bernatzki: Momentan habe ich den Eindruck, dass die Politik den Ernst der Lage noch nicht erfasst hat. Im Oktober lädt das Aktionsbündnis Pflegestop.de deshalb zu einer Podiumsdiskussion in die Burg Seevetal ein. Es haben schon Abgeordnete aus der Region zugesagt, was ich sehr begrüße. Eigentlich ist es jetzt aber an der Zeit, dass die Versicherten auf die Straße gehen, wenn sie weiterhin gut versorgt werden wollen. Die Pflegekräfte und Pflegeeinrichtungen haben lange genug Alarm geschlagen, ohne wirklich gehört zu werden.