Jesteburg. Gesetzgebung zwingt ambulante Pflege in die Knie: Warum der AHD, der größte Hauspflegeanbieter im Landkreis Harburg, jetzt die Notbremse zieht
„Hallo, hier ist Joscha. Geht es Ihrem Mann jetzt besser, ist er ruhiger geworden?“ Ein sonniger Nachmittag an der Allerbeekskehre in Jesteburg. Ein junger Mann mit blondem Pferdeschwanz steht auf dem Hof des AHD, des Ambulanten Hauspflege Dienstes, und telefoniert mit der Angehörigen eines Patienten, den er vor kurzem versorgt hat. Es ist Ostersonntag. Und Joscha arbeitet. Genauso wie seine Kollegen, rund 40 AHD-Pflegekräfte, die sich an diesem Feiertag um 60 Pflegebedürftige im gesamten Landkreis Harburg kümmern. So wie jeden Tag. Und jede Nacht. Professionell, individuell, menschlich, wie es das Firmenmotto verspricht.
Der AHD zählt 250 Mitarbeiter, davon 120 Vollzeitkräfte. Rund 800 Patienten betreut der AHD mit sieben Standorten im Landkreis Harburg, im Heidekreis und in Rönneburg. Er ist der größte der derzeit 32 Pflegedienste (lt. Seniorenwegweiser) im Landkreis Harburg. Doch nun, im 25. Jubiläumsjahr des AHD, hat Gründer Ole Bernatzki (51) die Notbremse gezogen und eine Insolvenz in Eigenverwaltung beim Amtsgericht Tostedt beantragt (das Hamburger Abendblatt berichtete). Am Mittwoch vor Ostern wurde das Verfahren eröffnet. Eine Nachricht wie ein Paukenschlag. „Ich bin nicht pleite“, sagt Bernatzki, der weiterhin Geschäftsführer des AHD bleibt. Alle Rechnungen werden bezahlt, alle Verpflichtungen des Unternehmens erfüllt, betont er. Nicht Missmanagement oder unternehmerische Fehlentscheidungen haben den AHD in finanzielle Schieflage gebracht. Sondern ein Regelwerk, das ein auskömmliches Wirtschaften nicht mehr ermöglicht. „Wir sind die Ersten, die mit dem Insolvenzverfahren vorangehen, weitere Pflegedienste könnten folgen“, ist Bernatzki sicher.
Jesteburger ist gelernter Pfleger ist und liebt seine Arbeit
Er, der gelernter Pfleger ist und seine Arbeit liebt, möchte sein Unternehmen erhalten. Dazu hat er sich schon vor Monaten eine renommierte Beratungsgesellschaft an die Seite geholt. Auslöser der gegenwärtigen Krise: das „Tariftreuegesetz“, das unmittelbar vor der Bundestagswahl im Jahr 2021 – auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie – durch das Parlament gepeitscht wurde und Pflegeheime und ambulante Pflegedienste verpflichtet, ihre Mitarbeiter nach Tarif zu bezahlen.
Klatschen vom Balkon reiche nicht mehr, so der Konsens in Berlin. Pflegedienste müssen nun entweder unter das Dach eines bestehenden Tarifvertrags schlüpfen – zur Auswahl stehen in Niedersachsen zwölf unterschiedliche Regelwerke – oder sie müssen nachweisen, dass sie ihre Pflege- und Betreuungskräfte mindestens in Höhe der bestehenden Tarifverträge entlohnen. Für die Pflegedienste bedeutet das Gesetz eine durchschnittliche Steigerung der Personalkosten von 25 bis 30 Prozent, der AHD hat für sich eine Mehrbelastung durch Löhne und Gehälter von 22,5 Prozent errechnet.
Minister Lauterbach schaute im Wahlkampf 2021 beim AHD vorbei
Diese Kostensteigerung sei durchaus gewollt, so Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der im Wahlkampf im September 2021 dem AHD in Jesteburg einen Besuch abstattete und die Lohnerhöhung als „späten Dank für alle aktiven Pflegekräfte“ bezeichnete. Auch Ole Bernatzki begrüßt die Neuregelung: „Ich finde das Gesetz wirklich toll. Seit über 30 Jahren bin ich in der Pflege und endlich gibt es für die Altenpflege eine reelle Vergütung“, sagt er.
Doch bei der Umsetzung dieses Gesetzes fühlt sich der Sozialunternehmer allein gelassen. Denn was der AHD und andere Pflegedienste für ihr Personal ausgeben, das muss auch wieder eingenommen werden, und genau da hakt es.
Die Verhandlungen über die Vergütung der pflegerischen Leistungen werden jedes Jahr erneut mit den Pflegekassen geführt, die den Krankenkassen angegliedert sind. Bisher haben das die Berufsverbände getan. Das Ergebnis der Verhandlungen war schon bisher selten auskömmlich, da ging es nach dem Motto „friss oder stirb“, berichtet Bernatzki.
Pflegedienste konkurrierten sichgegenseitig nieder
Folge: Die Pflegedienste konkurrierten sich gegenseitig nieder, „irgendeiner hat es dann immer zu dem Preis gemacht“, so der Pflegeunternehmer weiter. Doch nun müssen private Betreiber wie der AHD selbst mit den Kassen verhandeln. Und die knausern, obwohl die Politik bei der Gesetzesnovelle versprochen hatte, dass die gestiegenen Lohnkosten zu 100 Prozent von den Kostenträgern übernommen werden. Nur wie das geschehen soll, darum habe sich dann anschließend keiner mehr gekümmert, bemängelt Bernatzki.
Die Einnahmen der Pflegedienste kommen aus Vergütungen für pflegerische Leistungen wie Waschen und Anziehen. Diese Leistungen bezahlen die Pflegekassen, die den Krankenkassen angegliedert sind. Darüber hinaus erbringen Pflegedienste auch Behandlungspflege, also Leistungen, die der Arzt verschreibt, zum Beispiel Injektionen, Verbandswechsel etc.
Die Verhandlungen über die Vergütungen werden mit den Landesverbänden der Krankenkassen geführt. Mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. So kommt es, dass zum Beispiel eine „große Körperpflege“ in Baden Württemberg mit 36 Euro in Rechnung gestellt werden kann. In Niedersachsen sind es lediglich 24 Euro. Auch in Hamburg und Schleswig Holstein seien die ausgehandelten Tarife stets höher als in Niedersachsen, berichtet Bernatzki.
Kassen zahlen in Hamburg für einige Leistungen deutlich mehr
Wie er im Speckgürtel Hamburgs zu niedersächsischen Leistungsvergütungen Pflegekräfte halten soll, die auch in der Hansestadt arbeiten könnten und dort besser verdienen würden, das hat ihm noch niemand verraten. Gleichzeitig steigt der Bedarf an Pflege im Landkreis Harburg enorm. Schon in den vergangenen Monaten habe er Wartelisten geführt und neue Kunden abgewiesen, so Bernatzki weiter. „Wir müssten mehr Personal einstellen, was wir auch tun würden. Aber das können wir aktuell nicht bezahlen“, sagt er. Seit Februar 2022 führte Bernatzki mit den Kassen Einzelverhandlungen. „Ich wurde hingehalten, immer wieder wurden Belege angefordert, Plausibilitätsnachweise verlangt“, so der genervte Unternehmer. Erst unmittelbar vor dem Inkrafttreten des Tariftreuegesetzes bekam er 16 Prozent mehr Vergütung von den Pflegekassen zugestanden.
Das reicht nicht, um die vom Tariftreuegesetz eingeforderte Lohnsteigerung abzudecken, die für den AHD Mehrkosten von 60.000 Euro im Monat bedeuten. Bis zuletzt hoffte Bernatzki, dass er zumindest für die Behandlungspflege mehr bekäme. Doch sechs Stunden vor Ablauf der Frist, am 31. August 2022, erfuhr er, dass die Krankenkassen lediglich ein Plus von 3,45 Prozent geben. Denn die Behandlungspflege darf die Steigerung der Grundlohnsumme, eine Zahl, die sich aus der Gesamthöhe des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts berechnet, nicht übersteigen. „Wer das Tariftreuegesetz gemacht hat, hat also entweder gegen das Föderalismusprinzip oder gegen das Selbstbestimmungsrecht der Krankenkassen verstoßen“, schlussfolgert Bernatzki.
Unternehmer suchte Hilfe in der Politik. Vergeblich.
Der Unternehmer suchte Hilfe in der Politik, wandte sich an das Bundesgesundheitsministerium. Und erhielt die Auskunft, das Bundesministerium könne nicht in die Tarifautonomie eingreifen, er möge doch selbst mit den Kassen verhandeln. Am Gründonnerstag informierte Bernatzki seine 250 Mitarbeiter über die Insolvenz in Eigenregie. „Ich hatte Angst. Viele haben geweint, doch alle stehen zu mir und sagen mir, dass wir es gemeinsam schaffen werden“, so Bernatzki.
Für die nächsten drei Monate übernimmt nun die Bundesagentur für Arbeit die Bezahlung der 250 Angestellten. Eine Entlastung für den Betrieb, der in vollem Umfang weiter läuft. In dieser Zeit sollen Optimierungslösungen gesucht werden, die weitere Einsparungen möglich machen. In Zeiten von steigenden Mieten für die Betreuungseinrichtungen und exorbitanter Energiepreise ein schwieriges Unterfangen.
Wer könnte auf einen Schlag 600 bis 800 Patienten vom AHD übernehmen?
Und dann? Dann kommt für Bernatzki die Zeit, seinen vielleicht größten Trumpf auszuspielen. Denn im Zuge der Insolvenz kann der AHD sämtliche Verträge mit den Pflege- und Krankenkassen für null und nichtig erklären. Der Unternehmer: „Ich werde erneut an die Kassen herantreten und ihnen sagen, dass ich versucht habe, mit dem Honoraren auszukommen, und dass es nicht geht“. Der Unternehmer aus Leidenschaft, der „weder eine Finca auf Mallorca besitzt noch einen teuren Sportwagen“, wirft der Politik komplettes Versagen vor. Er weiß: „Wir sind systemrelevant. Wenn wir schließen müssen, wäre kein einziger anderer Pflegedienst im Landkreis Harburg in der Lage, auf einen Schlag 600 bis 800 Patienten vom AHD zu übernehmen.“
Droht dem Hamburger Speckgürtel also demnächst der Pflege-Kahlschlag? Die Politik habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt und vergessen, dass jetzt die Babyboomer in Rente gehen. „Das sind unfassbar viele Menschen, die vielleicht demnächst gepflegt werden müssen. Und das sind die künftigen Wahlentscheider“, mahnt Bernatzki. Einer, der diese mahnenden Worte gehört hat, ist Landtagsabgeordneter Jan Bauer: „Ich stehe bereits seit länger Zeit in Kontakt mit Ole Bernatzki und bin mir absolut bewusst, dass die Politik schnell handeln muss“, sagt er. Die Pflegekassen seien per Gesetz dazu verpflichtet, die steigenden Lohnaufwendungen bei den Verhandlungen zur Vergütung der Pflegeleistungen zu berücksichtigen. Doch die gegenwärtige Refinanzierung durch die Kranken- und Pflegekassen liege deutlich unter den Gehaltssteigerungen in den Betrieben. Deshalb müsse jetzt „der Druck auf die Kassen erhöht werden.“ Bauer hat sich in der Sache an den niedersächsischen Sozialminister Andreas Philippi gewandt. Die Antwort, die er aus dem Ministerium erhielt, sei „sehr ernüchternd“ ausgefallen. „Die von Ihnen angeführten Refinanzierungsquoten und der Vorwurf einer systematischen Unterfinanzierung ist für mich nicht nachvollziehbar“, heißt es in dem Brief aus Hannover.