Jesteburg. Ambulante Dienste im Kreis fürchten um ihre Existenz.In der Region fehlt Geld, um die Qualität aufrecht zu erhalten.

Wie viel ist diese Arbeit wert? Allein ist den Wagen der Pflegedienste unterwegs, frühmorgens und bis spät in die Nacht. Eine lange Reihe von Patienten, einer nach dem anderen, für die die Krankenschwestern und Pfleger nicht nur Helfer mit notwendigen Medikamenten, sondern Ansprechpartner sind und für die sie wie selbstverständlich Empathie empfinden. „Diesen Job“, sagt Altenpfleger Joscha Naujokat, der am Steuer sitzt, „kann man nur mit Spaß machen.“ Er bringt ihm bei 30 Stunden in der Woche zwischen 1400 und 1500 Euro netto von seinem Arbeitgeber, dem Ambulanten Hauspflegedienst (AHD) in Jesteburg.

Naujokats erste Station ist an diesem Nachmittag ein 86-Jähriger. Nur mit einem Lifter kann der Pfleger den Körper des Mannes, den die Parkinson-Krankheit versteift hat, aus dem Bett hieven und ihn dann in seinen Rollstuhl setzen. So geht das seit Jahren. „Aber immer nehmen sich die Pfleger bei uns Zeit. Sie sind liebevoll und rechnen nicht nach Minuten ab“, sagt die Ehefrau. Die ambulante Pflege macht ein Heim entbehrlich – ohne sie unmöglich.

15 Pflegedienste aus dem Kreis schreiben Offenen Brief

Naujokat fährt weiter zu Alwin Matzel. Für die Haustür des Gebäudes am Rand von Buchholz hat er wie für viele andere Wohnungen die Schlüssel. Matzel ist seit Jahren auf ein Beatmungsgerät angewiesen, braucht eine Insulin-Spritze, kann sich mit Rollator aber im Haus bewegen. „Seine wunde Leiste wird wieder besser“, sagt der Pfleger. Das freut Tochter Heike Knuth und ihren Mann, die den AHD ebenfalls loben. „Nur durch den Pflegedienst komme ich auch noch einmal vier bis fünf Stunden aus dem Haus“, sagt Heike Knuth, die bei HSV-Spielen im Catering im Stadion arbeitet.

„Ja, wir dürfen uns für die Patienten Zeit lassen“, bestätigt Naujokat. Zeit nimmt sich auch seine Kollegin Nicole Schmidt, obwohl sie bei Fritz Dopslaff nur die Kompressionsstrümpfe wechselt. Die Arzthelferin ist seit 22 Jahren im Job und seit 14 Jahren beim AHD. Ihr Chef Ole Bernatzki zahlt ihre Arbeitszeit durchgängig. Auch die Minuten für das Zusammenstellen von Tabletten und einen Blick in das Buch, in dem alle AHD-Mitarbeiter Besonderheiten bei den Patienten notieren. Das ist offensichtlich nicht überall so.

Doch ob Bernatzki künftig weiter so kalkulieren kann, ist offen. Die 15 Dienste der Gemeinschaft der Pflegedienste im Landkreis Harburg, zu der der AHD gehört, haben deshalb bereits einen Offenen Brief an die zuständigen Minister in Berlin und Hannover geschickt (Abendblatt berichtete). Sie fürchten, dass durch die in Hamburg gezahlten höheren Löhne immer mehr Fachpersonal abwandert und die Existenz der ambulanten Pflege im Kreis in Gefahr gerät: „Die Lage im Speckgürtel ist ein Problem“, teilten die Dienste mit.

In Hamburg gibt es für Pflegeleistungen mehr Geld

Hintergrund: In Hamburg wird nach der Qualifikation der Pfleger abgerechnet und dabei etwa bei einem Kathederwechsel pauschal 19,61 Euro in Rechnung gestellt. Für Niedersachsen ergibt sich ein Betrag von 8,53 Euro und ein Wegegeld von 4,06 Euro. „Wir können zwar mehrere Leistungen abrechnen. Insgesamt dürfen aber nicht mehr als 19,62 Euro zusammen kommen“, sagt Bernatzki. „Zudem wollen wir, um schlichtweg unsere Einnahmen zu erhöhen, unsere Patienten nicht kranker machen als sie sind.“ Selbst in Hamburg tätig zu werden, ist den Mitgliedern der Gemeinschaft zwar erlaubt, würde aber nichts an den Einkünften ändern. Denn entscheidend für die Modalitäten der Abrechnung bleibt der Firmensitz.

Wie die Kalkulation ausfällt, lässt sich am Einsatz von Naujokat nachrechnen. Der 33-Jährige, der beim AHD auch seine Ausbildung absolviert hat, scannt seine Leistungen bei den Patienten ähnlich wie an der Supermarktkasse ein. Dafür liegt dort eine Akte mit dem Durchführungsnachweis aus, nach dem zum Monatsende abgerechnet wird. Nur: Hat ein Patient einfache Leistungen schon allein ausgeführt, darf kein Cent abgerechnet werden.

Naujokats Besuche bei 13 Patienten bringen der Firma an diesem Tag gut 237 Euro. Sein Bruttolohn beträgt dagegen gut 146 Euro plus 20 Prozent Arbeitgeberzuschlag von 29,20 Euro. Bleiben für die Firma knapp 62 Euro. „Das reicht vor allem für kleinere Firmen auf Dauer nicht aus“, ist Bernatzki überzeugt, „um langfristig Autos und Personal im Büro mit zu finanzieren.“

Zu diesem Problem kommt für den AHD, der mit 170 Beschäftigten und einem Umsatz von vier Millionen Euro zu den hundert größten privaten Anbietern bundesweit zählt, der zögerliche Eingang von Geldern. Hintergrund: Die Kassen zahlen über Abrechnungszentren, die erst überweisen, sobald die Leistungen auch bewilligt sind – so jedenfalls die Erfahrungen in Jesteburg. „Rechnungen müssen aber beglichen werden, solange sie nicht abgelehnt sind“, sagt AHD-Pflegedienstleiterin Anja Räthke. „So dürfte es bei Zahlungszielen von 14 bis 21 Tagen gar keine Rückstände geben.“ Allein für Oktober fehlen in Jesteburg dennoch 180.000 Euro. „Wir denken jetzt über ein Inkasso-System nach,“ so Räthke.

Für Carsten Sievers, Sprecher der AOK-Niedersachsen, sind die Vertragskonstrukte jedoch angemessen. „Sie sind in den Ländern meist langjährig gewachsen und gemeinsam mit den Verbänden der Leistungserbringer den gesetzlichen Veränderungen und wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst worden“, sagt Sievers. Er verweist darauf, dass die Krankenkasse sich erst vor wenigen Tagen mit der Pflegebranche auf neue Vergütungen für 2019 geeinigt hat. Danach gilt, dass Leistungen und Wegepauschalen um 2,51 Prozent steigen sollen, soweit 2,03 Prozent oder 81 Prozent des Zuschlags an die Beschäftigten weitergegeben werden. Für die Krankenversicherung, so Sievers, sollen die Gespräche jetzt beginnen.

„Niedersachsen setzt sich aktiv dafür ein, die Situation in der Pflege zu verbessern“, sagt Uwe Hildebrandt, der Sprecher des Sozialministeriums in Hannover. Allerdings habe das Land keinen Einfluss auf die Vergütungen. Diese würden direkt zwischen den Pflegediensten und den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen ausgehandelt. Ministerin Carola Reimann habe sich aber dafür stark gemacht, dass die Wegezeiten im ländlichen Raum besser vergütet werden, sagt ihr Sprecher.

Kutschfahrten, Feste und eine Weihnachtsfeier für Patienten

Wichtig für die Patienten ist aber vor allem, dass für sie Zeit bleibt und sie ernst genommen werden. Während Arzthelferin Schmidt die Füße ihres Patienten Dopslaff eincremt, erzählt er, was ihn vor allem zufrieden macht. Es ist nicht nur die Verlässlichkeit, dass die Pfleger morgens und abends zu bestimmten Stunden kommen. „Vom AHD werden für uns Kutschfahrten, Schützenfeste und gerade eine Weihnachtsfeier organisiert.“, erzählt Dopslaff. „Die AHD-Mitarbeiter sind stets freundlich.“

Um dies auch künftig bieten zu können, will die Gemeinschaft der Pflegedienste eine Preisliste aushandeln, die die Lage in der Region berücksichtigt. „Die vereinbarten Erhöhungen sind keine Antwort auf die Lage unserer Gemeinschaft im Speckgürtel von Hamburg“, sagt Bernatzki. Entscheiden müssen letztlich nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die Gesellschaft: Darüber, wie viel ihnen die ambulante Pflege und die Menschen wert sind.