Lüneburg. Modellprojekt: Wie die Digitalisierung die Stromversorgung in Lüneburg sichert. Und was das mit der Energiewende zu tun hat.

Sonne, Wind und Wasser werden in Zukunft die wichtigsten Energiespender im Land sein. Die Energiewende bringt neue Herausforderungen mit sich, so muss der Strom auch bei schwankender Produktion gleichmäßig verteilt werden. Mit smarten Stromnetzen soll die Versorgungssicherheit gestärkt und letztendlich das Ziel der Klimaneutralität schneller erreicht werden.

Wer begreifen will, wie die Umstellung funktionieren kann, erhält in Lüneburg einen Einblick. In einem Gebiet rund um die 80.000-Einwohner-Stadt errichtet das Energieunternehmen Avacon, der zuständige Netzbetreiber, zurzeit die sogenannte Smart Energy Region. Im Zuge eines Modellprojekts wird hier die großflächige Digitalisierung eines regionalen Stromnetzes erprobt. Das intelligente Stromnetz – englisch: Smart Grid – soll als Vorbild für einen bundesweiten Wandel dienen.

Digitalisierung des Stromnetzes: Lüneburger Modellprojekt beginnt in Wohngebiet

Der Weg zum Energienetz der Zukunft beginnt in einem Wohngebiet im westlichen Lüneburg. Mehrfamilienhäuser, Hochhäuser und Einfamilienhäuser aus den 1970er-Jahren reihen sich an den Straßen, die Namen ostdeutscher Städte tragen. Solardächer oder private Ladestationen für E-Autos sind kaum zu sehen. In diesem Quartier, am Rande eines Garagenhofs, steht eine der Keimzellen, aus denen sich die Modellregion speisen soll.

Smart Energy Region Lüneburg: Avacon-Technikvorstand Rainer Schmittdiel (l.) und Projektleiter Florian Hintz an einer der bereits digitalisierten  Ortsnetzstationen.
Smart Energy Region Lüneburg: Avacon-Technikvorstand Rainer Schmittdiel (l.) und Projektleiter Florian Hintz an einer der bereits digitalisierten  Ortsnetzstationen. © Lena Thiele

Die digitale Ortsnetzstation ist ein unscheinbarer hellgrauer Kasten, allein die kleine Antenne an einer Ecke verrät, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Stromverteiler handelt. Über diese Antenne werden die Daten übermittelt, die helfen sollen, den Strom in der Stadt gleichmäßiger zu verteilen. Sie liefert dem Netzbetreiber die Information, wann und wo besondere Spitzen in Verbrauch und Erzeugung auftreten. Es sind Daten, die entstehen, wenn die Bewohner des Quartiers Wäsche waschen, Filme streamen oder per Wärmepumpe ihre Wohnräume heizen.

400 digitale Ortsnetzstationen soll es bis Ende 2024 in und um Lüneburg geben

Rund 50 solcher Stationen gibt es bisher in der Modellregion. Bis Ende 2024 sollen es 400 sein. Das sind etwa 40 Prozent der Ortsnetzstationen in der Stadt Lüneburg sowie den Gemeinden Elbmarsch, Bardowick, Adendorf, Scharnebeck und Ostheide. Einige werden neu gebaut, an anderen Standorten werden bestehende Stationen mit der neuen Technik ausgestattet und über Router an das öffentliche Mobilfunknetz angebunden.

Sie alle schicken Daten über den Stromverbrauch und dessen Erzeugung in ihrer jeweiligen Umgebung an die Leitstelle des Netzbetreibers Avacon. Dort werden sie digital erfasst, strukturiert und ausgewertet. Hinzu kommen digitale Messsysteme in den Wohnhäusern.

Aus den Wohnhäusern liefern Smart Meter wertvolle Daten für reibungslosen Stromfluss

5000 dieser sogenannten Smart Meter sollen in Zukunft die klassischen Stromzähler in und um Lüneburg ersetzen, damit freie Stromkapazitäten besser erkannt und genutzt werden können. „Wir rechnen fest damit, dass die Kunden sich viel mehr mit Energiethemen beschäftigen und das Bewusstsein über das eigene Verbrauchsverhalten steigen wird“, sagt Rainer Schmittdiel, Technikvorstand von Avacon.

Auf der Grundlage der gemessenen Daten wird der Stromfluss in der Region gesteuert und – bei ungleicher Verteilung – ausbalanciert. Indem die Energie je nach aktueller Versorgungslage umgelenkt wird, sollen Engpässe vermieden werden. Das funktioniere wie im Straßenverkehr, erklärt Projektleiter Florian Hintz. „Kommt es an einer Stelle zum Stau, wird der Strom umgeleitet, sodass alles im Fluss bleibt. Die smarte Station weiß immer, wie die Leitung in der Umgebung ausgelastet ist.“

Digitales Modell von Netzbetreiber Avacon zeigt Wandel in der Stromproduktion

An einem digitalen Modell zum Projekt zeigt Hintz, wie die digitalisierte Lenkung der lokal erzeugten Energie aussehen kann. Auf dem Bildschirm verlaufen die Energieströme wie Ameisenstraßen in Dauerschleifen durch die Straßen einer Beispielstadt, sie zweigen an Wohnhäusern ab und treffen an den digitalen Ortsnetzstationen aufeinander. Von dort aus werden sie weiter geleitet, stets dorthin, wo der Strom in diesem Moment gebraucht wird.

Smart Energy Region Lüneburg: Projektleiter Florian Hintz (l.) und Avacon-Technikvorstand Rainer Schmittdiel am digitalen Modell, das die voraussichtliche Entwicklung bis 2030 zeigt.
Smart Energy Region Lüneburg: Projektleiter Florian Hintz (l.) und Avacon-Technikvorstand Rainer Schmittdiel am digitalen Modell, das die voraussichtliche Entwicklung bis 2030 zeigt. © Lena Thiele

In das Projekt investiert das Unternehmen 40 Millionen Euro bis 2024. Auch ein neues digitales Umspannwerk entsteht in Volkstorf, es soll die Leistungsfähigkeit des Lüneburger Netzes erheblich erhöhen. Durch die Digitalisierung könne der notwendige Netzausbau zwar nicht gänzlich vermieden, aber deutlich reduziert werden, betont Schmittdiel. „Wir schaffen mehr Kapazität im Bestandsnetz.“

Sonne und Winde: Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien ist unregelmäßig

Durch das Ausbalancieren der Stromflüsse sollen Angebot und Nachfrage besser aufeinander abgestimmt werden. Das wird mit der Energiewende wichtiger als je zuvor. Denn Sonne und Wind sind weder so regulierbar wie ein Kohle- oder Kernkraftwerk, noch liefern sie gleichmäßig den benötigten Strom.

Auf die Schwankungen in der grünen Energiegewinnung zielt auch das bekannteste Argument ihrer Kritiker: Erneuerbare Energien seien unzuverlässig, sogenannte Lastspitzen durch erhöhten Stromverbrauch zu bestimmten Tageszeiten und schließlich Stromausfälle würden damit wahrscheinlicher. Es gebe die Angst, dass die Netzstabilität und damit die Versorgungssicherheit sinke, sagt Schmittdiel. „Unser Ansatz sorgt dafür, dass das nicht geschieht.“

Bis 2020 soll die Region um Lüneburg die Klimaneutralität erreicht haben

Die Verschiebung von fossilen zu erneuerbaren Energien ist in dem digitalen Modell ebenfalls abgebildet. Schwarze Linien stehen für Energieströme aus Kohle und Gas, grüne für solche aus Wind, Wasser und Sonne. In der Gegenwart verlaufen die farbigen Striche auf den meisten Strecken parallel. „Wenn wir aber in die Zukunft gucken“, sagt Projektleiter Hintz und verschiebt mit der Maus einen Regler auf dem Bildschirm bis zum Jahr 2030. „Dann sehen wir fast nur noch grüne Linien.“ Das Kraftwerk im Hintergrund ist verschwunden, auf den Dächern glitzern Photovoltaikanlagen und vor den Häusern stehen kleine Wallboxen, Ladestationen für Elektro-Autos.

Das Ziel im Hintergrund ist die angestrebte CO2-Neutralität der Region. Sowohl die Stadt als auch der Landkreis Lüneburg wollen bis 2030 klimaneutral werden. Mindestens 100 Prozent des erzeugten Stroms sollen aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Diese Zielmarke wurde im Landkreis bereits zeitweise übertroffen. Im Durchschnitt des Jahres 2022 betrug die sogenannte Grünstrom-Quote, gemessen am Verbrauch im Netz der Avacon, 113 Prozent. Damit könnte der Bedarf mehr als gedeckt werden. Die Zahl ergibt sich durch einen Überschuss in der Produktion – vor allem Photovoltaikanlagen auf Eigenheimen lieferten mehr Energie als die Haushalte verbrauchten.

Photovoltaik: In der Zukunft werden Hausbewohner noch mehr Energie selbst produzieren

Beim Blick in die Zukunft zeigt das digitale Modell eine weitere Veränderung: Vor vielen Häusern verlaufen die Linien in beide Richtungen, von der Straße hinein und ebenso hinaus. Künftig soll noch mehr Energie in privaten Haushalten erzeugt werden.

Viele Stadtbewohner werden daher zumindest einen Teil ihres Stromverbrauchs aus der eigenen Produktion decken, im Idealfall übernehmen zum Beispiel Autobatterien die zwischenzeitliche Speicherung. Entsteht ein Überschuss, kann dieser in das regionale Stromnetz eingespeist werden. Auch diese Zuflüsse sind schwankend und müssen gleichmäßig verteilt werden.

Avacon-Vorstand: Daten lassen keine Rückschlüsse auf Verhalten einzelner Haushalte zu

Durch den digitalen Datenaustausch zwischen Endkunden, Energieversorgern und Energieproduzenten soll die Infrastruktur nicht nur nachhaltiger, sondern auch widerstandsfähiger werden. Das dafür notwendige Sammeln und Verwerten von privaten Verbrauchsdaten macht einigen Menschen jedoch Sorgen. Kritiker befürchten zum Beispiel, die Daten könnten auch für andere Zwecke genutzt werden.

Alle gesetzlichen Anforderungen an Datenschutz und Cybersecurity würden eingehalten, die Daten anonymisiert, betont Schmittdiel. „Es können keine Rückschlüsse auf das Verhalten einzelner Haushalte gezogen werden.“ Entschlüsselt würden die Daten lediglich, um Störungen zu lokalisieren. Auch im Lüneburger Rathaus wird das Projekt begrüßt. „Dezentrale Erzeugung und schwankender Verbrauch verlangen flexible Lösungen, um eine klimaneutrale Zukunft zu ermöglichen“, sagt Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch.

Modellprojekt Smart Energy Region Lüneburg ist in dieser Größenordnung bundesweit einzigartig

Die Smart Energy Region Lüneburg ist eines von zwei Modellprojekten, die der Avacon-Mutterkonzern E.ON derzeit in Deutschland durchführt. Es wird in Teilen wissenschaftlich durch die RWTH Aachen begleitet und ist laut Projektleiter Hintz in dieser Größenordnung bundesweit einzigartig.

Das digitale Modell zur Smart Energy Region Lüneburg zeigt auch: In Zukunft werden Wind und Sonne für die Stromerzeugung immer wichtiger. Ziel ist die Klimaneutralität bis 2030.
Das digitale Modell zur Smart Energy Region Lüneburg zeigt auch: In Zukunft werden Wind und Sonne für die Stromerzeugung immer wichtiger. Ziel ist die Klimaneutralität bis 2030. © Lena Thiele

Die Region soll zum Vorbild für die Digitalisierung der Energie-Infrastruktur in Deutschland werden. „Nur mit smarten Netzen können wir die künftigen Anforderungen an unsere Netze meistern und erneuerbare Energien vor Ort effizienter nutzen“, sagt Technikvorstand Schmittdiel zur Bedeutung des Projekts. „Nur so können Elektromobilität schneller vorangetrieben und die Wärmewende vollzogen werden. Und nur so können wir uns schneller unabhängiger von fossilen Brennstoffen und Energieimporten machen.“

Große Stromtrassen von Nord nach Süd müssen noch gebaut werden

Auf regionaler Ebene soll das smarte Energienetz die gleichmäßige Stromversorgung sichern. Damit dies auch bundesweit gelingt, müssen nicht nur viele weitere Regionen ihr Netz digitalisieren. Es müssen auch neue Leitungen von Norden nach Süden geschaffen werden, um das deutschlandweite Gefälle in der nachhaltigen Energieproduktion auszugleichen. Die Planung dieser sogenannten Stromautobahnen treffen vielerorts auf lokalen Widerstand.

Bisher sind lediglich 400 Kilometer der Höchstspannungsleitungen, die den grünen Strom vom Norden in den Süden des Landes transportieren und überwiegend unterirdisch verlaufen sollen, genehmigt. Die Bundesnetzagentur hat jedoch vor Kurzem angekündigt, dass in den kommenden zwei Jahren mehrere Tausend weitere Kilometer genehmigt werden. Insgesamt muss allein das Höchstspannungsnetz um rund 14.000 Kilometer ausgebaut werden.

Modellprojekt zur Digitalisierung des Stromnetzes ist ein Baustein in der Energiewende

Bis es soweit ist, werden die kleinen grauen Stationen in und um Lüneburg längst alle ihre Daten senden. Das digitale Stromnetz ist nur ein Baustein im Fortschritt der Energiewende. Aber er kann helfen, dass die notwendigen Veränderungen auch akzeptiert werden – wenn die Menschen in ihren Wohnungen weiterhin jederzeit waschen, föhnen, fernsehen und vielleicht auch ihr Auto vor der Tür laden können.