Lüneburg. Lüneburger Landwirt beteiligt sich an EU-Projekt zur Zukunft der Landwirtschaft. Sein Weg: Wachstum durch Chaos.
Mit kräftigen Schritten stapft Jochen Hartmann durch das wogende Getreidefeld. Die Ähren der Sommergerste biegen sich zur Seite. Halme brechen leise knacksend unter seinen Arbeitsschuhen. Der Landwirt hat sein Ziel fest im Blick, noch ein paar Schritte, dann ist er angekommen.
Unter einer langen Reihe von jungen Pappeln durchzieht ein insgesamt sechs Meter breiter Blühstreifen den Acker. Wilde Möhre wächst hier, Schafgarbe, Rotklee, Johanniskraut, Spitzwegerich und auch Brennnesseln. Zwischen den Gräsern summt eine Hummel, auf dem Boden krabbelt ein Käfer. Jochen Hartmann dreht sich um. „Ist das nicht schön?“
Lüneburger Hof beteiligt sich an EU-Projekt F.R.A.N.Z
Die bunte Blütenpracht ist aber nicht nur etwas fürs Auge, in erster Linie dient sie der Wissenschaft – und der Zukunft der Landwirtschaft. Der Lüneburger Hof Hartmann ist einer von zehn Betrieben in Deutschland, die sich an dem EU-Projekt „Für Ressourcen, Agrarwirtschaft und Naturschutz mit Zukunft“ – kurz F.R.A.N.Z. – beteiligen. Seit 2017 erproben der Bauer und sein Team verschiedene Maßnahmen, um die Artenvielfalt auf landwirtschaftlichen Flächen zu fördern, darunter Blühstreifen, Feldvogelinseln und Insektenwälle. Denn Biodiversität und damit intakte Ökosysteme, so die bereits wissenschaftlich bestätigte Grundannahme des Projekts, sind eine wesentliche Voraussetzunge um auf Dauer ausreichend hohe Erträge auf den Äckern im Land zu sichern.
Jochen Hartmann ist ein Mensch, der viele Ideen hat – und diese auch in die Tat umsetzt. Das sei für seine Mitarbeiter manchmal anstrengend, sagt der 41-Jährige, während er zügig zurück zum Feldweg stapft. Für die Zukunft der Landwirtschaft ist es ein Gewinn. Denn mit den vielen kleinen und größeren Experimenten, die der Bauer auch zusätzlich zum F.R.A.N.Z.-Projekt wagt, kann er seine Branche auf lange Sicht nur voranbringen. „Ich bin etwas unstrukturiert“, räumt er ein. „Aber wir müssen ja neue Wege einschlagen.“ Nicht alles, was er anpackt, gelingt. So sucht er noch nach einer Lösung, die Disteln auf den Feldvogelinseln einzudämmen. Alles andere funktioniere erstaunlich gut, so seine Einschätzung zur Halbzeit des Projekts.
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Der Lüneburger Hof ist ein konventioneller Betrieb. Nur auf Bio umzustellen, erscheint Jochen Hartmann weder sinnvoll noch ausreichend. „Wir stehen vor einem großen Problem, das wollen wir lieber gleich richtig angehen.“ Gemeinsam mit seiner Frau Hilke Hartmann führt der Landwirt den auf Kartoffelanbau spezialisierten Hof in der 19. Generation, vor elf Jahren hat er ihn von seinem Vater übernommen. Schon seine Vorfahren hätten schwierige Zeiten durchstehen müssen, sagt er. „Heute geht es um den Erhalt der Biodiversität. Das ist auch eine gewaltige Herausforderung, aber es ist lösbar.“
Bauer machte den reinen Ackerbaubetrieb zukunftsfähig
Der Bauer wusste von Anfang an, dass er etwas ändern muss, um den damals reinen Ackerbaubetrieb im Lüneburger Stadtteil Rettmer zukunftsfähig zu machen. Die entscheidende Idee kam schließlich von seiner Frau, die in die Direktvermarktung einsteigen wollte. Für den Hofladen wurden Eier benötigt, so kamen die Hartmanns zu ihren ersten hundert Legehennen.
„Damals haben wir uns gefragt: Welchen Lebensraum braucht ein Huhn eigentlich?“, erzählt Jochen Hartmann und gibt gleich die Antwort: „Es braucht keine satte grüne Wiese, sondern ist ein Waldrandtier und mag keine hohen Temperaturen.“ Sie legten einen Hühnerwald an, ein Agroforstsystem mit heute meterhohen Pappeln und verschiedenen Sträuchern, wie Johannisbeere, Holunder und Walnuss. Gehalten werden die mittlerweile 2800 Hennen in mobilen Ställen auf wechselnden Flächen. Sie können sich im Schatten der Bäume und Sträucher aufhalten und auf dem Boden nach Insekten und Früchten picken. Jochen Hartmann geht seine Projekte seitdem immer so an. „Wir müssen die richtigen Fragen stellen, müssen Natur, Tiere und Boden verstehen und danach handeln. Darum bin ich Landwirt geworden.“
Boden soll nachhaltig einen guten Ertrag liefern
Was braucht der Boden, um nachhaltig einen guten Ertrag zu liefern? Dieser Frage geht er im F.R.A.N.Z.-Projekt gemeinsam mit Wissenschaftlern und den anderen beteiligten Landwirten nach. Regelmäßig tauschen die Teilnehmer sich aus, berichten über Erfolge und Fehlschläge, geben Tipps weiter und überlegen, wie sie die nächsten Schritte am besten angehen. Diese Zusammenarbeit von Forschern und Praktikern sei immens wichtig, betont Jochen Hartmann. Auch weil er weiß, dass nicht alle seiner Kollegen so offen für neue Wege sind wie er und noch einige Hürden abgebaut werden müssen. „Es ist ein großer Fehler, dass Naturschutz und Landwirtschaft noch immer so getrennt voneinander arbeiten.“
Auch auf dem Feldweg steht an diesem Tag ein Auto, das offenbar einem Forscher-Team gehört. „Göttingen wahrscheinlich“, überlegt Jochen Hartmann. „Irgendwer ist immer hier draußen. Die beobachten die Vögel, Schmetterlinge und Wildbienen.“
Der Landwirt biegt jetzt nach rechts ab, wieder geht es durch die Gerste, diesmal ist das Ziel eine sogenannte Beetle Bank. Der 700 Meter lange Erdwall, der sich einmal durch das Getreidefeld zieht, bietet Lebensraum für Insekten, seine schrägen Seiten sorgen für ein angenehm warmes Klima. Der Boden eignet sich gut für Wildbienen zum Nisten. Die Gräser, die hier wachsen, ziehen zudem Nützlinge, wie Schwebfliegen und Marienkäfer, an. Auch ein Schwalbenschwanz ist zu sehen. Der Falter hat sich schon nach kurzer Zeit an dem Insektenwall angesiedelt.
Zehn Prozent der Betriebsfläche für Biodiversitäts-Experimente
Jochen Hartmann beugt sich hinunter, biegt ein paar Gräser auseinander und fährt mit der Hand über den lehmigen Boden. „Wir brauchen auch offenen, nackten Boden, das ist wichtig für Käfer und Insekten.“ Ein paar Meter weiter testet er derzeit, was es bringt, das Getreide mit mehr Abstand zu pflanzen. In den Zwischenräumen könnten sich Lebewesen ansiedeln, der Boden wird zudem stärker durch die Sonne erwärmt. Der Bauer rupft beherzt zwei Gerstenbüschel aus verschiedenen Reihen aus der Erde, das Wurzelwerk unterscheidet sich sichtbar. „Mal sehen, wie es damit weitergeht.“
Bewährt haben sich bereits die Feldvogelinseln, 40 mal 40 Meter große Felder mitten auf dem Acker. Bepflanzt mit Erbsen, rundherum geschützt durch das hoch, aber nicht zu dicht wachsende Getreide. „Das ist ein Hotspot für Feldvögel, da gehen die wirklich hin“, sagt Jochen Hartmann. „Feldlerchen und Goldammern und auch der Feldhase brauchen solche offenen Strukturen.“
Insgesamt zählen neun Maßnahmen zu dem EU-Projekt. Der Einsatz für mehr Biodiversität ist dem Landwirt zehn Prozent seiner Betriebsfläche wert, die 200 Hektar umfasst. Natürlich koste das Geld, sagt er. „Ich habe mehr Arbeit und weniger Ertrag. Aber Biodiversität ist unser Fundament.“ Deshalb setzt er auf eine andere Rechnung: Wenn das Projekt dazu beitrage, dass die Landwirtschaft im ganzen Land produktiver werde, profitierten am Ende alle davon.
Viele landwirtschaftliche Flächen im Land eintönig gestaltet
Auf dem Rückweg noch einmal ein Stopp an einem mehrjährigen Blühstreifen. „Das ist wirklich tipptopp geworden. Ende April bis Ende September blüht hier eigentlich immer irgendetwas“, sagt Jochen Hartmann und beugt sich über eine Fenchelpflanze. „Das riecht so gut! Und was ist das hier? Ich weiß es gar nicht.“ Er dreht sich zwischen gelbem Rainfarn, hellblauer Wegwarte und roter Lichtnelke hin und her, ihm ist die Begeisterung über die Vielfalt anzusehen.
Viele landwirtschaftliche Flächen im Land sind noch immer eher eintönig gestaltet, Stichwort Monokulturen. Auch er habe in seiner Ausbildung gelernt, Ordnung auf dem Feld und drumherum zu halten, sagt der Lüneburger Bauer. Unkraut raus, Seitenstreifen mulchen, alles schön gründlich. Manchmal ist er selbst erstaunt, wie gut ihm das neue Durcheinander gefällt.
Zum neuen Konzept der Vielfalt gehört auch, hin und wieder mit dem Trecker über die Fläche zu fahren und einen kleinen Teil der Pflanzen zu zerstören. So erhalten wieder neue Organismen die Chance, in den Bodenrillen heranzuwachsen. „Ein bisschen Chaos ist wichtig“, sagt Jochen Hartmann. Dann hält er inne, blickt zu einer hoch aufragenden Pflanze in seinem Blühstreifen. „Nur der Beifuß muss weg, der ist ätzend.“