Hamburg. Die ab den 1950er-Jahren zu Kuren an die Nordsee geschickten „Bunkerkinder“ berichten vielfach von Missbrauch.
Halvor Jochimsen hat als Neunjähriger zusehen müssen, wie sein Kumpel sein eigenes Erbrochenes hat aufessen müssen. Der kleine Halvor musste ein Gedicht aufsagen, sonst gab es keine Weihnachtsgeschenke, und er durfte keinen Kontakt zu seinen Eltern in Hamburg-Wellingsbüttel haben: Der 81-Jährige teilt diese Erlebnisse mit vielen anderen ehemaligen Verschickungskindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Heime nach St. Peter-Ording geschickt worden waren. Die Kinder waren sehr häufig physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Das geht nun offiziell aus einer in St. Peter-Ording vorgestellten Studie der Christian--Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel hervor.
Drei Monate war Halvor Jochimsen zwischen Herbst 1949 und Januar 1950 zur Kinderkur ins Gorch-Fock-Haus nach St. Peter-Ording geschickt worden. Er hat seinen neunten Geburtstag und Weihnachten dort fern von seinen Eltern verbracht. Der Grund: „Ich hatte Lungen- und Atemwegsprobleme, da sollte die Nordseeluft helfen“, sagt er. Jochimsen kann sich auch daran erinnern, dass er und die anderen Kinder an Heiligabend Gedichte aufsagen mussten, sonst gab es keine Geschenke, so die Drohung der „Tanten“, wie die Erzieherinnen genannt wurden. „Meine Eltern durften mich in den drei Monaten nur einmal besuchen.“
St. Peter-Ording: Systematische Gewaltanwendung nicht nachweisbar
Die Aufenthalte in den Heimen haben Spuren hinterlassen. Denn: Neben physischer Gewalt wie Schläge, Einsperren, Essensentzug oder Essenszwang haben die Kinder damals auch seelische Gewalt erfahren. Sie seien beschimpft, mit Nichtbeachtung bestraft oder bloß gestellt worden. Hinweise auf sexualisierte Gewalt, so das Ergebnis der Studie, liegen für die Einrichtungen in St. Peter-Ording aber nicht vor.
Auch systematische Gewaltanwendungen aus niederen oder ideologischen Beweggründen konnten für St. Peter-Ording nicht festgestellt werden. Das sei der Unterschied zu den Erziehungsheim-Skandalen, bei denen es häufig um sexuellen Missbrauch geht.
Die meist drei bis sechswöchigen Kinderkuren der „Bunkerkinder“ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sollten vor allem der Erholung dienen. Zu den Hochzeiten der Kinderverschickungen in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es etwa 30 Heime in St. Peter-Ording. Die Studie geht von etwa 325 000 Kindern aus, die in dem nordfriesischen Ort Kuren verbrachten. Insgesamt wurden in der damaligen Bundesrepublik von 1945 bis 1990 zwischen sechs bis zwölf Millionen Kinder in solche Heime „verschickt“.
435 Betroffene wurden befragt
Für ihre Untersuchung haben die Wissenschaftler um Professor Helge-Fabian Hertz und Professor Peter Graeff 435 Betroffene wie Herrn Joachims aber auch vereinzelt ehemalige Mitarbeiter der Heime zu ihren Erfahrungen in St. Peter-Ording befragt. Meist per Fragebogen, nur sechs Interviews haben sie persönlich geführt. Die Studie beruht neben der Auswertung der Fragebögen auf mehreren Tausend Seiten Archivmaterial und mehreren Hundert Fragebögen einer externen Erhebung.
Laut Helge-Fabian Hertz dienten die Gewaltmaßnahmen aus Sicht der damals Verantwortlichen der Gesundheitsfürsorge. Mit dem Verbot, Kontakt zu den Eltern aufzunehmen, dachten man damals, das Heimweh lindern zu können. „Damals war das so, das geht hin bis zur Körperstrafe. Das ist heutzutage natürlich undenkbar.“
Von 435 Befragten berichten 135 von Essenszwang
Für Frauke Luckmann, 53 Jahre, aus Bad Bramstedt waren die Erlebnisse im Haus Lorenzen durchaus dramatisch. Wenn sie davon berichtet, wie sie als Fünfjährige vom ersten Tag an von ihrem ein Jahr älteren Bruder getrennt wurde, muss sie mit den Tränen kämpfen. „Nur wenn wir ins Wellenbad gingen, sah ich meinen Bruder.“ Das war 1974. Sie war zur Kur geschickt worden, um abzunehmen. „Ich sollte abnehmen und wurde doch zwangsernährt. Wir mussten unsere Teller leer essen.“
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Bei ihr war es ein Magen-Darm-Virus, der ihr den Appetit nahm. Für die „Tanten“ war das kein Grund. Die kleine Frauke musste dennoch ihr Gulasch mit Nudeln aufessen. „Ich saß da den ganzen Tag bis 16 Uhr, ehe ich es geschafft hatte, weil ich mich immer wieder erbrechen musste.“ 135 der Befragten berichten von Essenszwang. Professor Graeff: „Die positiven Erlebnisse sind bei vielen Betroffenen nicht so detailliert ausgeprägt, es sind eher Gefühle. Die negativen Erlebnisse können die Befragten dagegen meist ausführlicher schildern.“ Und das noch Jahrzehnte später. Diese Exzesse haben Lebensläufe beeinflusst.
Nordsee: Frau Luckmann entwickelte massive Essstörung
Frauke Luckmann entwickelte eine massive Essstörung, ist immer wieder in psychotherapeutischer Behandlung. Zu ihrem sechsten Geburtstag schickten ihr die Eltern ein Care-Paket. „Ich durfte nur die Schokolade behalten, die Geschenke bekamen andere Kinder.“