Hamburg. Bestrafung, Demütigung, Züchtigung: In “Heimweh“ von Gernot Grünewald durchleben Senioren ihre Kinderkur-Erfahrungen noch einmal.

Ihre Namen klingen schön. Geradezu einladend. Sie heißen „Glückauf“ oder „Sonnenhang“ oder „Haus Fröhlich“. Doch wer in den 1950er- und 60er-Jahren als Kind wegen Unter-, Überernährung oder anderer gesundheitlicher Probleme sechs Wochen lang auf eine Kinderkur in die Berge oder ans Meer geschickt wurde, erlebte in der Regel nicht das Paradies. Stattdessen Zwangsernährung mit ungenießbarem Brei. Bestrafung, Demütigung, Züchtigung.

In Gernot Grünewalds dokumentarischem Theaterabend „Heimweh. Kinderkuren in Deutschland“, der jetzt im Thalia in der Gaußstraße zur Uraufführung kam, übernehmen zehn Seniorinnen und Senioren, die zum Teil ihre eigenen Erfahrungen auf der Bühne noch einmal durchleben, die Rollen der Kinder. Ihre Kleidung verstauen sie in einem Koffer und legen die von Katharina Arkit kreierte Anstaltskleidung sowie eine Kindermaske an.

Theater in Hamburg: Weinen ohne Grund? Wird bestraft.

Das von Michael Köpke in Grau und Weiß gestaltete Heim sieht auch auf der Bühne zunächst einladend aus. Reichlich Essen, die Aussicht auf Gemeinschaft mit Gleichaltrigen. Doch schnell bimst ihnen hier das Anstaltspersonal (Oliver Mallison, Sandra Flubacher, Meryem Öz) Disziplin ein. Um jeden Preis. Wer in das Bett nässt, erhält am nächsten Tag kein Getränk. Wem es nicht gelingt, sich korrekt anzuziehen, bekommt kein Essen. Nachts hat man, sediert durch eine Pille reglos in der gleichen Richtung liegend, zu schlafen. Weinen ohne Grund? Reden ohne Anlass? Wird sofort bestraft. Schlimmstenfalls mit dem Einsperren in eine dunkle Kammer.

Erschüttert nimmt man als Zuschauer die Erniedrigungen dieser anrührend puppenhaften Wesen wahr, die angeblich doch dem medizinisch verordneten Wohle der Kinder, die in der Regel aus kinderreichen, finanziell schwächeren Familien stammten, dienen sollten. Das Geschehen auf der Bühne wird in Schwarz-Weiß auf zwei Leinwände vergrößert. Die Betreuenden sprechen förmlich Erziehungsmethoden ins Mikrofon. Dann wieder schildern Kinderstimmen aus dem Off eindringlich die sich davon stark unterscheidende Perspektive der Verschickungskinder.

Empathie und gebotene künstlerische Distanz

Grünewald, ein Experte für präzises dokumentarisches Theater, hat seine umfangreiche Recherche bei der Autorin Anja Röhl begonnen. Über ihre Betroffenen-Website destillierte er Archetypen der Erlebnisse, die er dann wiederum theatral verdichtet hat. Diese Setzung funktioniert – auch und gerade wegen der authentischen alten Menschen, die stumm die Kinderrollen übernehmen.

Die Erinnerungen schreiben auch die Erziehung unter dem Nationalsozialismus fort. In Institutionen hat man zu funktionieren. Das gilt bis heute auch für den immer wieder von Skandalen geprägten Bereich der Pflege- und Altenheime. Und es verwundert nicht, wenn am Schluss die Kinderstimmen aus dem Off davon erzählen, dass man sich als ehemaliges Verschickungskind niemals wieder in ein Heim begeben könne.

Auf sehr genaue Weise, mit Empathie aber auch gebotener künstlerischer Distanz leistet dieser Theater-Abend ein Stück kollektive Trauma-Aufarbeitung.

„Heimweh“, wieder am 15.5., 26.5., jew. 19 Uhr, 8.6., 11.6., jew. 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Karten: T. 32 81 44 44; thalia-theater.de