Hamburg. Millionen Kinder wurden bis in die 1990er-Jahre zur Erholung in Kurheime geschickt – für viele wurde der Aufenthalt zum Albtraum.

Viele Jahre lang quälte Anja Liedtke (54) ein immer gleicher Albtraum, den sie nicht verstand. „Mein kleiner Bruder und ich liegen nachts in unseren Betten, als eine Krankenschwester mit Häubchen auf dem Kopf ins Kinderzimmer tritt, um uns zu kontrollieren. Sofort liege ich stocksteif da und traue mich nicht mehr zu atmen. Dazu kommt eine Riesenangst um meinen Bruder, weil ich weiß: Er kennt das Verbot, sich zu bewegen, nicht“, erzählt die Heilpraktikerin für Psychotherapie, die 1970 als Vierjährige für sechs Wochen in ein Kinderkurheim im Allgäu verschickt worden war.

Die Erklärung für ihren rätselhaften Traum fand Anja Liedtke erst, als sie im Frühjahr dieses Jahres das erste Treffen der Hamburger Selbsthilfegruppe für Verschickungskinder besuchte. „Durch die Erzählungen der älteren Teilnehmer habe ich begriffen, dass ich dieses Szenario damals Abend für Abend im Heim erlebt haben muss: Wer im Schlafsaal einen Mucks von sich gegeben hat, musste mit Schlägen rechnen“, sagt sie. „Langsam fügen sich die Puzzleteile zusammen, die erklären, warum ich in meinem Leben unter Ängsten und Panikattacken gelitten habe.“

Viele Kinder kamen mit Ess- und Schlafstörungen zurück

Wie Anja Liedtke sind von der Nachkriegszeit bis in die frühen 1990er-Jahre geschätzte acht bis zwölf Millionen Kinder im Alter zwischen zwei und 14 Jahren aufgrund schwächlicher Konstitution zur Erholung geschickt worden. In den fast 1000 Kinderkurheimen in Trägerschaft von Krankenkassen, Kirchen oder Stiftungen sollten sie durch reichhaltige Ernährung und viel Beschäftigung an der frischen Luft gesundheitlich gestärkt werden.

Doch zahlreiche dieser Kinder kamen nach ihrem sechs- bis achtwöchigen Aufenthalt an der See oder in den Bergen verstört zurück: Sie litten unter Ess- und Schlafstörungen und erzählten den Eltern von drastischen Erziehungsmethoden und erlittenen Demütigungen. Viele stießen damit jedoch auf taube Ohren: Die Eltern glaubten ihnen nicht oder hielten die Schilderungen aufgrund des Heimwehs für übertrieben. Oder sie konnten, da sie selbst vom NS-Regime und den Erziehungsmethoden der Schwarzen Pädagogik geprägt und durch den Zweiten Weltkrieg traumatisiert waren, gar nicht nachvollziehen, warum die Kinderseelen so verletzt waren.

In Hamburg gibt es eine Selbsthilfegruppe

Erst ein Fernsehbericht des Magazins „Report Mainz“ im September 2019 über das Leid der Verschickungskinder machte das Thema einer breiten Öffentlichkeit bewusst. Hunderte ehemalige Verschickungskinder meldeten sich auf den Beitrag. Der von ihnen gegründete Verein zur „Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung“ vernetzt seither bundesweit Betroffene, sammelt Erfahrungsberichte und treibt die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas voran. „Es ist für uns alle eine heilsame Erfahrung zu begreifen, dass wir mit unserem Schicksal nicht allein dastehen und uns die schrecklichen Erlebnisse nicht bloß eingebildet haben“, sagt Soziologe Peter Krausse (70), der als Landeskoordinator die Hamburger Selbsthilfegruppe ins Leben rief.

Der ehemalige Verkehrsplaner war selbst Ende der 1950er-Jahre als Achtjähriger zur Kinderkur ins „Schloss am Meer“ in Wyk auf Föhr verschickt worden. „Dort habe ich erlebt, wie die ,Tanten‘ einen Jungen im Speisesaal dazu zwangen, seine Mahlzeit und dann auch sein Erbrochenes aufzuessen“, erzählt er. „Später musste er zur Strafe in Mädchenkleidung an einer Wanderung teilnehmen und wurde deshalb von den anderen Kindern gehänselt.“ Als Peter Krausse sich weigerte, einen vorgegebenen Text von der Tafel auf eine Postkarte an die Eltern abzuschreiben, geriet er selbst in den Fokus der Erzieherinnen.

 Holger Weidner, Peter Krausse, Anja Liedtke (v.l.) sind Teil einer Selbsthilfegruppe von ehemaligen Verschickungskindern in Hamburg
Holger Weidner, Peter Krausse, Anja Liedtke (v.l.) sind Teil einer Selbsthilfegruppe von ehemaligen Verschickungskindern in Hamburg © Martina Petersen | Martina Petersen

Sein Triumph, eine Karte an den „Tanten“ vorbei an die Eltern abschicken zu können, führte in doppelter Hinsicht zu einer schweren Enttäuschung: Seine Eltern reagierten nicht auf seinen dringenden Wunsch, ihn abzuholen. Und auf der Feier zum Nikolaustag musste er vortreten und wurde vom Nikolaus vor allen Kindern für sein Verhalten gerügt.

„Ich habe geheult vor Wut“, erinnert er sich. „Zum Glück war ich aber schon alt genug, um dem erlittenen Unrecht mit einer Strategie zu begegnen: Ich wusste, dass ich als Kind keine Chance habe, mich zu wehren. Aber als Erwachsener wollte ich es besser machen und immer für Gerechtigkeit einstehen. So hat mich diese Zeit für mein Leben geprägt.“

Auch Holger Weidner (75), der 1954 als Neunjähriger in ein katholisches Kinderheim im Sauerland verschickt worden war, hat die Kur als schweren Einschnitt in seinem Leben empfunden. „Ich war sehr frei und liebevoll von meiner Mutter und meinen Großeltern erzogen worden“, sagt der ehemalige Vizepräsident der Hamburger Universität.

Von einer Nonne mit Fäusten traktiert

„Die massive Brutalität im Heim hat mich schockiert. Ich wurde von einer Nonne mit Fäusten traktiert, weil sie mich beim Mittagsschlaf mit offenen Augen ertappt hat. Und ich hatte den Eindruck, dass die Erzieherinnen die Prügeleien unter den Jungen wohlwollend duldeten und sich die Hackordnung für die Durchsetzung ihrer Interessen zunutze gemacht haben. Ich schäme mich heute noch dafür, dass ich versucht habe, mich anzupassen und einmal einen Jungen in kurzen Hosen in die Brennnesseln geschubst habe.“

Eingebrannt ins Gedächtnis hat sich auch eine Demütigung vor den anderen Kindern, die der Soziologe erlebt hat. „Wir haben morgens nur wenige Blätter Papier für unsere Toilettengänge zugeteilt bekommen. Wer wie ich einmal mit beschmutzter Unterwäsche erwischt wurde, musste aushalten, dass die fleckige Wäsche den anderen Kindern als abschreckendes Beispiel präsentiert wurde.“ Nach den „sechs ausweglosen Wochen“ litt Holger Weidner unter Schlafstörungen und sackte bei seinen schulischen Leistungen drastisch ab. „Mir ist wichtig, dass diese Geschichten heute öffentlich aufgearbeitet werden, um die Augen für institutionelle Gewalt gegen Kinder zu öffnen“, sagt er.

Familienminister haben das Leid der Verschickungskinder anerkannt

Mittlerweile gibt es eine Homepage des Vereins (www.verschickungsheime.de), auf der Betroffene Tipps für die eigene Recherche bekommen und die Möglichkeit haben, über ihre Erfahrungen Zeugnis abzulegen. Weit über 1000 Berichte sind bereits eingegangen. Die Familienminister haben im Mai 2020 das Leid der Verschickungskinder anerkannt.

„Auch in Hamburg möchten wir zu einer wissenschaftlich qualifizierten Recherche beitragen“, sagt Martin Helfrich, Pressesprecher der Hamburger Sozialbehörde. „Unabhängig von den Vorhaben im Bund wird bei uns die Beauftragung für eine Untersuchung bereits vorbereitet.“ Darüber hinaus fordert der Verein von der Politik die Finanzierung einer Bundesgeschäftsstelle und der therapeutischen Unterstützung für schwer traumatisierte Verschickungskinder, die bis heute unter ihren Erlebnissen leiden.

Am Montag, den 10. August zeigt die ARD um 22 Uhr die Reportage „Gequält, erniedrigt, drangsaliert – Der Kampf ehemaliger Kur-Kinder um Aufklärung“, für die Peter Krausse und zwei weitere Betroffene bei ihrer Spurensuche in Wyk auf Föhr begleitet wurden.

Ab der zweiten Augusthälfte werden voraussichtlich wieder Treffen der Hamburger Selbsthilfegruppe stattfinden. Infos bei Peter Krausse unter Verschickungskinder.hh@gmail.com