Das ohnehin strukturschwache Schleswig-Holstein soll die meisten Soldaten verlieren und den größten Beitrag zur Schrumpfkur leisten.
Hamburg. Rüdiger Steffensen, Bürgermeister des 4500-Einwohner-Ortes Boostedt bei Bad Segeberg, kann es nicht fassen: "Die Kaserne in Boostedt soll dem Erdboden gleichgemacht werden", schimpft er. Erst vor einer Woche noch habe der Bauausschuss der Gemeinde über den Antrag der Bundeswehr beraten, ein neues Wachgebäude am Eingang der Rantzau-Kaserne zu bauen. Just an der Kaserne, die jetzt 2015 dichtmachen soll. Von 1980 Soldaten sollen 1940 abrücken, der Rest ein Munitionsdepot bewachen. "Damit haben auch die Soldaten nicht gerechnet", sagt Steffensen. In seinem Zorn nimmt er nun den Ministerpräsidenten ins Visier: Der habe nicht genügend für Boostedt gekämpft. "Ihm ist der Süden des Landes egal." Auf der Sparliste steht auch der zweite große Bundeswehrstandort im Hamburger Umland neben Boostedt, die Unteroffiziersschule der Luftwaffe in Appen. Sie soll 150 von derzeit 500 Soldaten verlieren, behält aber die Zweigstelle in Heide.
+++Hart, aber richtig+++
+++"Rostock wird deutlich gestärkt"+++
+++Niedersachsen verliert ein Fünftel der Soldaten+++
Schleswig-Holstein steht unter Schock: Das strukturschwache Bundesland soll mit der Schließung von gleich acht Standorten und dem Abbau von mehr als 10 000 Soldaten (41,2 Prozent) den größten Beitrag zur bundesweiten Bundeswehr-Sparaktion liefern. In den betroffenen Standorten reagierten Bürger, Soldaten und Politiker enttäuscht, entsetzt und oft auch wütend. Die Nordelbische Kirche hat bereits angeboten, Soldaten und ihre Familien seelsorgerisch zu betreuen.
Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) zeigte aber trotz der harschen Proteste auch Verständnis für den "schmerzhaften Einschnitt" und kündigte ein Hilfsprogramm an, damit die Lichter in Schleswig-Holstein nicht ausgehen. Carstensen wies den Vorwurf zurück, er habe "nicht hart genug verhandelt", machte allerdings kein Geheimnis daraus, dass er sich in Berlin erfolgreich für das Pionierbataillon in Husum eingesetzt habe. Die Pioniere sind aus Sicht des Westküstenpolitikers unverzichtbar, um bei einer schweren Sturmflut die Deiche zu sichern. Umso stärker werden in Schleswig-Holstein andere Standorte bluten, neben Glücksburg und Kiel auch solche, in denen die Bundeswehr der mit Abstand größte Arbeitgeber in der Region ist.
Das gilt für Seeth, Hohn oder Alt Duvenstedt ebenso wie für Lütjenburg, wo alle 830 Soldaten abrücken sollen. "Das ist eine politische und militärische Fehlentscheidung", schimpfte Bürgermeister Lothar Ocker. In der kommenden Woche wollen die Lütjenburger mit einer Demonstration für den Erhalt der Schill-Kaserne streiten. "Wir werden darüber hinaus den Verteidigungsminister einladen, seine Entscheidung in Lütjenburg zu erläutern", sagte Stadtsprecher Stefan Leyk. "Der Minister muss die Hosen runterlassen."
+++ Das sind die 31 von der Schließung betroffenen Standorte +++
Den großen Frust in Lütjenburg im Kreis Plön erklärt Leyk damit, dass die Kleinstadt (5400 Einwohner) ohne Bundeswehr kaum eine Zukunft hat. Ob Bäcker, Tankstelle oder die kleinen Geschäfte in der Innenstadt - alle leben von und mit den Soldaten. Ohne Bundeswehr muss mindestens einer der sechs Kindergärten schließen; gefährdet sind auch der örtliche Sportverein und nicht zuletzt die Arbeit im Stadtparlament: Jeder dritte Abgeordnete war oder ist Uniformträger.
Carstensen bemühte sich, die Wogen zu glätten. "Wir mussten damit rechnen, dass Schleswig-Holstein durch die Reform hart getroffen wird, zumal unser Land bisher die höchste Stationierungsdichte hatte." Zudem bleibe Schleswig-Holstein auch nach der Reduzierung der Truppen von 26 000 auf 15 300 Soldaten mit einer Quote von 5,4 Dienstposten je 1000 Einwohner (bisher 9,2) die Nummer zwei in Deutschland. Den neuen Spitzenplatz hält nun Mecklenburg-Vorpommern (6,4), auch dank Schleswig-Holstein: Das Glücksburger Flottenkommando soll nach Rostock umziehen.
Sperrfeuer kam von der SPD. "Die Entscheidung des Verteidigungsministeriums ist desaströs für Schleswig-Holstein", sagte der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels dem Abendblatt. Mit mehr als 40 Prozent weniger Dienstposten sei das Land der Verlierer der Reform. "Für die Landesregierung ist das auf jeden Fall kein Erfolg", meinte der Verteidigungsexperte. Andreas Breitner, Vizechef der Landes-SPD, griff Carstensen knapp sieben Monate vor der Landtagswahl frontal an. Der Regierungschef habe sich in Berlin zu wenig für die Interessen Schleswig-Holsteins eingesetzt, kritisierte Breitner. Er ist als Bürgermeister von Rendsburg direkt betroffen, weil das Lufttransportgeschwader 63 im nahen Hohn auf der Sparliste steht.
Carstensen versuchte, den betroffenen Standortgemeinden neue Hoffnung zu geben. Bereits heute will er auf der in Lübeck tagenden Konferenz der Ministerpräsidenten dafür streiten, dass der Bund den Truppenabbau mit einem Konversionsprogramm abfedert und frei werdende Bundeswehrflächen "verbilligt" an die Gemeinden abgibt. Zudem will das Kieler Kabinett am nächsten Dienstag einen "Aktionsplan" aufstellen, um Gemeinden den Weg in eine zivile Nutzung von Bundeswehrliegenschaften zu ebnen.
Solche Programme haben in Schleswig-Holstein Tradition. Das kleine Land zwischen Nord- und Ostsee, in dem auch wegen seiner strategischen Bedeutung im Kalten Krieg so viele Truppen stationiert wurden wie nirgendwo sonst, musste schon bei früheren Bundeswehrreformen kräftig bluten. Seit 1988, als von 1000 Einwohnern 30 Soldaten waren, wurden im Norden bereits mehrere Dutzend Standorte geschlossen, insgesamt 60 300 Soldaten abgezogen.
Im Zuge jeder Sparaktion legte die jeweilige Kieler Regierung ein eigenes Hilfsprogramm auf, das einige Früchte trug. Das ehemalige Munitionslager Enge-Sande ist heute ein Testzentrum für Offshore-Windenergie, in den früheren Munitionsdepots in Löwenstedt und Süderlügum lagern Feuerwerkskörper und der stillgelegte Fliegerhorst Eggebek hat eine Perspektive als Energie- und Technologiepark.
Neben solchen Erfolgen gibt es aber auch zahlreiche Pleiten. Für mehr als 40 Bundeswehr-Liegenschaften fand sich bisher kein Interessent. Die Nachnutzung anderer Flächen, etwa auf Sylt, gestaltete sich auch schwierig, weil der Bund mit den Grundstücken Kasse machen wollte. Auf der Kippe steht eines der größten Konversionsprojekte, der Umbau des früheren Marinestützpunktes Kappeln-Olpenitz zum größten Ferienparadies in Europa. Die Investorengesellschaft musste vor Kurzem Insolvenz anmelden.
Hinzu kommt, dass Schleswig-Holstein sich keine weitere millionenschwere Hilfsaktion leisten kann. Selbst die üblichen Bund-Länder-Förderprogramme wurden im Zuge der jüngsten Sparwelle eingedampft. Letzte Hoffnung für Boostedt, Lütjenburg und die anderen Reformopfer ist die nahe Landtagswahl im Mai 2012. Sie könnte alle Parteien trotz leerer Landeskasse zu teuren Zugeständnissen bewegen.