Bei der niedersächsischen Kommunalwahl haben CDU und FDP am meisten eingebüßt. SPD bleibt hinter Erwartungen zurück. Grüne legen deutlich zu.
Hannover. Seit Juli 2010 ist der Christdemokrat David McAllister Ministerpräsident von Niedersachsen - und genauso lang hat er es vermieden, die schwarz-gelbe Bundesregierung öffentlich zu kritisieren . Gestern aber war damit Schluss. Unter dem Eindruck deutlicher CDU-Verluste bei der Kommunalwahl am Sonntag ließ er in Hannover keinen Zweifel, wer dafür die Verantwortung trägt: "Über zu viel Rückenwind aus Berlin können wir uns nicht beklagen." Angesichts der Umstände sei das CDU-Ergebnis von nur noch 37 Prozent sogar positiv zu sehen: "Diese Kommunalwahl fand in einem bundespolitischen Umfeld statt, das alles andere als einfach war."
Noch deutlicher wurde mit Blick aufs Erscheinungsbild der eigenen Bundespartei und der Bundesregierung Hans Heinrich Sander, stellvertretender FDP-Landesvorsitzender und niedersächsischer Umweltminister. Seine Partei hat ihre Wählerstimmen von 6,7 auf 3,4 Prozent annähernd halbiert. Sander berichtete von eigenen Erfahrungen im Straßenwahlkampf: "Wir haben die Enttäuschung der Wähler an den Ständen erlebt, die sagen, 'Euch wählen wir nicht, ihr habt in den vergangenen zwei Jahren nicht das erfüllt, was wir erwartet haben'". Konkret kritisierte Sander die Energiewende und den von der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag organisierten Ausstieg aus der Kernenergie: "Der Umstieg war auf jeden Fall zu schnell. Das haben unsere Wähler gar nicht verstanden."
Sieht man von FDP ab, die laut Sander "einen bitteren Tag" erlebt hat, reklamierten gestern eigentlich alle Parteien für sich, die Gewinner zu sein. McAllister verweist darauf, dass die CDU weiter stärkste Kraft in den Kommunalparlamenten ist, der SPD-Landesvorsitzende und Landtagsabgeordnete Olaf Lies aber sieht auch mit Blick auf die Landtagswahl ein "klares Signal" und die CDU abgestraft: "Wir haben vielleicht noch nicht ganz die Nase vorn, aber wir haben die Nase ganz weit vorn." Obwohl die Linke mit 2,4 Prozent deutlich hinter dem Ergebnis der Landtagswahl von 2008 zurückblieb, als sie mit 7,1 Prozent den Einzug ins Parlament in Hannover schaffte, sieht sich auch diese Partei als Gewinner. Messlatte ist für den Landesvorsitzenden Manfred Sohn die Kommunalwahl 2006. Da traten Linkspartei und WASG noch getrennt auf und erreichten nur ein Prozent. Sohn sieht "das Hauptziel" erreicht, das kommunalpolitische Fundament zu verbreitern.
Gestützt auf die annähernde Verdopplung ihrer Stimmen auf 14,3 Prozent hatten die Grünen gestern eindeutig den größten Grund zur Freude. Daraus erwuchs prompt Selbstbewusstsein mit Blick auf die Landtagswahl, die zwischen Oktober 2012 und Januar 2013 stattfinden wird. Die Diagnose der Grünen-Vorsitzenden Anja Piel: "Die Wähler halten uns Grüne für unerlässlich in der Landesregierung."
Tatsächlich birgt das Kommunalwahlergebnis Zündstoff vor allem für die in Niedersachsen seit 2003 regierende bürgerliche Koalition. CDU und FDP haben am Sonntag zusammen nur rund 40 Prozent der Stimmen geholt, SPD, Grüne und Linke liegen dagegen bei über 50 Prozent. Ministerpräsident McAllister betonte gestern zwar, die FDP sei aus Sicht seiner Partei der beste Koalitionspartner. Aber er definierte auch als Ziel, "dass an der CDU vorbei keine Landesregierung gebildet werden kann". Diese Parole beinhaltet die Möglichkeit, dass die Liberalen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern könnten. Die Grünen, die der Regierungschef dabei als Alternative im Kopf haben könnte, schließen ein Bündnis mit der CDU mindestens derzeit nicht aus. Ihr Fraktionschef Stefan Wenzel: "Wir werden diese Entscheidung vor der Wahl treffen. Im Moment möchte ich keine Option ausschließen." Für Wenzel spielen die Grünen "jetzt in einer anderen Liga, die ehemals großen Volksparteien müssen mit uns rechnen". Dass McAllister derzeit auf Bundesebene versucht, die Weichen für eine neue ergebnisoffene Standortauswahl für ein Atomendlager für stark strahlenden Müll zu stellen, macht in diesem Zusammenhang Sinn. Die Grünen fordern, auf die weitere Erkundung des Gorlebener Salzstocks auf seine Eignung als Endlager zu verzichten.
Spannend ist auch die Frage, wie schnell die SPD nun über ihren Spitzenkandidaten entscheidet, der sich anschließend mit dem in allen Umfragen glänzend dastehenden Amtsinhaber McAllister messen muss. Genannt werden immer drei Namen: Hannovers SPD-Oberbürgermeister Stephan Weil, der SPD-Landesvorsitzende Olaf Lies und der Vorsitzende des Bezirks Braunschweig, Hubertus Heil. Am Freitag wird der Landesvorstand erstmals über dieses Thema beraten. Völlig offen ist, ob es wieder zum traditionellen Gegeneinander der vier Bezirke kommt.
Schmachvoll für die Liberalen ist auch, dass sie in Hannover künftig mit 2,5 Prozent hinter der Piratenpartei mit 3,8 Prozent rangieren. Insgesamt kam die Piratenpartei aber landesweit nur auf ein Prozent. Mit 0,2 Prozent konnte die rechtsradikale NPD ihr Ergebnis nicht verbessern. "Diese Partei befindet sich auf einem für sie angemessenen Niveau bei uns in Niedersachsen", kommentierte das Ministerpräsident McAllister. Erfreulich auch aus der Sicht der Politik: Die Wahlbeteiligung lag mit 52,5 Prozent leicht über der des Jahres 2006.
Insgesamt sind am Sonntag nicht nur 2200 Kommunalparlamente, sondern auch über 100 Landräte, Bürgermeister und Oberbürgermeister in Niedersachsen direkt gewählt worden. Für die CDU war dabei der Erfolg ihres Kandidaten in Wilhelmshaven der vermutlich größte Überraschungscoup. Der neue Oberbürgermeister Andreas Wagner verdankt seinen Erfolg einer Gesetzesänderung. CDU und FDP haben im Landtag durchgesetzt, dass an diesem Sonntag erstmals die relative Mehrheit reichte, um gewählt zu werden. Noch vor sechs Jahren hätte Wagner mit seiner Stimmenzahl von 36 Prozent in die Stichwahl gegen den Zweitplatzierten gemusst. Insgesamt verdanken sogar 17 frischgebackene Landräte und Bürgermeister ihre schnelle Wahl diesem neuen Gesetz. Der Verein "Mehr Demokratie" beklagt dies und wies gestern darauf hin, in Königslutter sei ein Bewerber sogar mit nur 31 Prozent der Stimmen ins Amt gelangt, habe zudem nur 16 Stimmen Vorsprung vor dem Zweitplatzierten gehabt.
Peinlich für die SPD: Der 65 Jahre alte frühere Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke, der vor Jahresfrist im Streit um die Finanzierung seiner Silberhochzeit aus der SPD ausschied, hat in seinem Heimatort Varel an der Nordsee eine eigene Wählergemeinschaft auf die Beine gestellt. Mit 15 Prozent Wählerstimmen klappte der Einzug ins Stadtparlament auf Anhieb.