Schon wieder stürzen Brocken von Rügens Steilküste in die Ostsee. Auch in den nächsten Tagen werden weitere Abbrüche erwartet.
Rügen. So wagemutig wie die Ausflügler auf dem berühmten Bild des Malers Caspar David Friedrich dürfte in diesen Tagen wohl niemand mehr von den Kreidefelsen Rügens schauen. Nach tagelangen Regenfällen sind an der Kliffküste im Norden der Ostseeinsel am Wochenende gut 30.000 Kubikmeter Kreide und Mergel auf einer Länge von 100 Metern abgebrochen und haben dabei auch etliche Buchen mit in die Tiefe gerissen. Eine so große Menge, wie gut 3000 Betonmischer-Lkw transportieren könnten.
Milchig weiß schäumt das Ostseewasser an der Abbruchstelle, wo die Wellen das weiche Material schnell auflösen. Weitere Abbrüche seien in den nächsten Tagen zu befürchten, und auch am Wahrzeichen der Insel, dem 118 Meter hohen "Königstuhl", zeigten sich bereits Risse, heißt es bei der örtlichen Nationalparkverwaltung: "Abbrüche sind hier eigentlich nicht außergewöhnlich, außergewöhnlich war aber der viele Regen im Juli", sagt Martin Gehrke, Mitarbeiter im Nationalpark Jasmund, dem Abendblatt.
Seit 1993 wird in dem kleinsten Nationalpark Deutschlands eine exakte Wetteraufzeichnung geführt, noch nie habe es solche Niederschlagsmengen im Juli wie in diesem Jahr gegeben, sagt Gehrke. Die Meteorologen registrierten 210 Liter Regen pro Quadratmeter - das entspricht rund einem Drittel des in dieser Region üblichen Jahresmittels, meldet die Deutsche Presse-Agentur.
Immer mal wieder stürzen von den Kreidefelsen Brocken hinab, vor neun Jahren waren es sogar 150 000 Kubikmeter gewesen. Ein Phänomen, das auch an anderen Kreide-Steilküsten wie bei Dover oder auf der dänischen Insel Møn beobachtet wird. Üblicherweise seien Abbrüche besonders im März bei Tauwetter zu erwarten, sagt Nationalparkmitarbeiter Gehrke. Eingedrungenes Wasser gefriert im Winter in dem Sedimentgestein, sprengt es, beim Abtauen bröckeln die Schichten genauso wie schlecht gewartete Straßenfahrbahnen.
Doch auch nach Starkregen sind die Kreidefelsen oft brüchig: Durch die eher lockeren Bodenschichten dringt das Regenwasser leicht bis zu den Kreideschichten, wo es sich anstaut. Ähnlich wie Lehm kann Kreide sehr viel Wasser aufnehmen und wandelt sich dann zu einer weicheren, schmierigen Masse. Irgendwann rutschen Brocken und Schichten dann ab und krachen bis zu 100 Meter tief an den Strand.
Immer wieder erreichen daher Vorschläge die Nationalparkverwaltung, wie man solche Abbrüche technisch verhindern könnte. So zum Beispiel mit einer Art Lackschicht, die das Einsickern von Wasser erschweren könnte. Doch solche Überlegungen stoßen in der Regel auf Ablehnung. "Wir wollen den natürlichen Lauf der Dinge nicht beeinflussen, wir überlassen die Landschaft eben sich selbst", sagt Nationalparkmitarbeiter Gehrke. Auch die rund 13 Kilometer lange Steilküste werde nicht für Besucher gesperrt. Abbrüche gehören zu einer solchen Küste. Wer sich dort aufhält, müsse mit dem Risiko rechnen.
Immerhin rund 1,5 Millionen Besucher pro Jahr kommen Schätzungen zufolge nach Rügen, um sich die weißen Felsen anzusehen. Und gerade nach spektakulären Abbrüchen gebe es immer wieder Touristen, die sich speziell nach den Abbruchorten erkundigten, heißt es in der Nationalparkverwaltung. Viele davon, so die Beobachtung, suchen in den herabgestürzten Brocken nach Fossilien. Doch das bleibt eine gefährliche Sache. "Es bröckelt noch überall", meldet das Nationalparkamt und warnt vor Spaziergängen nahe der Kante.
Eine Warnung, die ernst genommen werden sollte. Auch der jetzige große Abbruch am "Kieler Bach" hatte sich laut den Behörden schon lange angekündigt - und das nicht nur wegen der schweren Regenfälle. Bereits vor zehn Tagen hatten sich dort Überhänge gebildet. Und auch an anderen Stellen liegen offensichtlich Wurzelwerke und große Steine an der Kante frei, die jederzeit abstürzen könnten.
Als Caspar David Friedrich um 1818 sein Bild gemalt hatte, dürfte sich der Felsen gerade nicht so gefährlich präsentiert haben. Obwohl auch den Menschen seinerzeit die latente Bedrohung gewiss gewesen sein musste. Kunsthistoriker interpretieren die Szene, die unter anderem den Maler selbst zeigen soll, jedenfalls als Sinnbild für einen "Blick in den Abgrund des Todes". Wer sich die aktuelle Abbruchstelle anschaut, kann das nachvollziehen.