Rügen erlebt einen der größten Abbrüche von Kreidefelsen seit 2002. 30.000 Kubikmeter rutschten auf den Strand und in die Ostsee.
Sassnitz. Die extremen Regenfälle der vergangenen Wochen haben einen riesigen Kreideabbruch an der Küste der Ostsee-Insel Rügen verursacht. Es handele sich um einen der drei größten Abbrüche seit 2002, sagte der kommissarische Leiter des Nationalparks Jasmund, Ingolf Stodian, am Montag. Insgesamt seien auf einer Länge von knapp 100 Metern rund 30.000 Kubikmeter Kreide und Mergel aus 70 Metern Höhe in die Tiefe gestürzt. "Die Scheibe, die sich vom Hang löste, war mit maximal vier Metern doch vergleichsweise dünn“, bilanzierte Stodian. Verletzt wurde bei dem Abbruch am vergangenen Wochenende niemand.
Vor neun Jahren stürzten rund 150.000 Kubikmeter Kreide und Mergel am Kreidekliff in den Abgrund, 2008 rund 35.000 Kubikmeter. Diesmal wurden am Kieler Bach zwischen Königsstuhl und Sassnitz auch 20 Bäume mitgerissen, darunter bis zu 80 Jahre alte Buchen. Weitere Abbrüche an der als Nationalpark geschützten Küste seien zu befürchten. "Es bröckelt überall“, sagte Stodian. Das Nationalparkamt warnte vor Spaziergängen an der Kante und unterhalb des Kliffs. Die Kreideküste zieht jedes Jahr rund 1,5 Millionen Besucher an.
Nach Starkregen oder in Tauphasen kommt es vermehrt zu Abbrüchen. Dies seien typische küstendynamische Vorgänge, erklärte Stodian. Derzeit seien die Hänge übersättigt. An vielen Stellen der 13 Kilometer langen Kreideküste dringe Wasser aus dem Kliff. "Wir haben allein im Juli rund 210 Liter Regen pro Quadratmeter registriert, rund ein Drittel des für die Region üblichen langjährigen Jahresmittels“, sagte der Hydrogeologe Stodian. Der Wetterdienst Meteomedia hat seit August 2010 mehr als 1100 Liter Regen gemessen - fast das Zweifache der sonst üblichen durchschnittlichen Jahresmenge. "Das ist schon außergewöhnlich“, sagte Meteorologe Stefan Kreibohm.
Auch am 118 Meter hohen Königsstuhl, dem Wahrzeichen Rügens, zeigen sich Risse. "Es ist eine Frage der Zeit, bis es auch hier Veränderungen gibt“, sagte Stodian. Allerdings denken die Geologen dabei in größeren Zeiträumen von 100 bis 1000 Jahren. Einen akuten Anlass zur Sorge gebe es derzeit nicht. "Wir konstatieren aktuell keine Rutschungserscheinungen“, sagte Karsten Schütze vom Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie (LUNG). Das Amt erstellt derzeit ein Gefahrenkataster für die Steilküsten in Mecklenburg-Vorpommern. Die besonders gefährdeten Areale der Kreideküste lägen vor allem im Bereich des Kollicker Ufers und des Kieler Baches. Dort sind die Kreidefelsen mit eiszeitlichen Schichten durchzogen. Bei Regen wirkt die übersättigte Kreide wie Schmiere und lässt die Hänge abrutschen.
Den jetzigen Abbruch am Kieler Bach hatten die Experten erwartet. Dort sei bereits vor zehn Tagen einen Überhang registriert worden. "Auch an anderen Stellen liegen Wurzelteller von Bäumen und riesige Steine an der Kliffkante frei, die jederzeit abstürzen können“, sagte Stodian. Eine Sperrung ist trotzdem nicht geplant. „Man kann eine 13 Kilometer lange Küstenlinie nicht sperren. Verbote ziehen die Leute noch mehr an.“ Bereits am Montag waren an der Abbruchstelle wieder Menschen unterwegs und suchten in den Abbruchmassen nach Fossilien.