Auf der Insel Rügen bröckeln die Steilküsten. Auch Massentourismus und Bebauung tragen zu den Abbrüchen bei, kritisieren Experten.
Rügen. In Folge des Tauwetters sind auf der Insel Rügen erneut drei Steilhänge ins Rutschen gekommen. An der Kreideküste nördlich von Sassnitz stürzten am Montag in der Nähe des Kollicker Ufers rund 1000 Kubikmeter Kreide 80 Meter in die Tiefe. Dabei stürzten nach Angaben des Nationalparkamtes auch Bäume auf den Strand. Überall an der 13 Kilometer langen Kreideküste liege die vom Frost abgesprengte äußere Kreideschicht wie abgeblätterter Putz am Klifffuß, sagte Dezernatsleiter Michael Weigelt am Dienstag. Hinzu kämen ungezählte kleine Abbrüche und Schlammflüsse. Menschen wurden nicht verletzt – ein Sassnitzer entkam allerdings nur knapp den herabstürzenden Massen.
Der Kreideexperte Manfred Kutscher bezeichnete das Risiko weiterer Abbrüche als „hoch bis überhoch“. Zwei Hangabbrüche ereigneten sich am Montagabend bei Mukran sowie in Göhren. An der Steilküste bei Mukran brachen auf einer Länge von etwa 100 Metern mehrere Kubikmeter Erde und Geröll von einem 15 Meter hohen Küstenabschnitt ab, wie die Polizei mitteilte. Etwas später rutschte ein Hang an der Nordstrandstraße in Göhren auf einer Länge von 6 Metern ab. Dadurch wurde die Zufahrt zu einem Hotel blockiert.
Nicht nur das natürliche Zusammenspiel von Frost, Tauwetter und Niederschlägen nagt an den Küsten. Auch der Massentourismus trägt nach Einschätzung von Experten zu den Abbrüchen an der Kreideküste bei. „Mehr als eine Million Besucher laufen jährlich über die Wege im Nationalpark Jasmund“, sagte der frühere Aufbauleiter des Nationalparks, Manfred Kutscher. Mit jedem Schritt transportierten sie etwas Erde weg und verdichteten zugleich den Boden. Inzwischen seien auch illegale Trampelpfade in Richtung der Kliffkanten entstanden, in denen sich Rinnen bildeten, über die dann Wasser in den Hang sickere.
Kutscher, von 1990 bis 2005 in leitender Position im Nationalparkamt tätig, sprach von schweren Versäumnissen und Geldmangel. „Holzgeländer, die die offiziellen Wege kennzeichnen, sind inzwischen verwittert oder fehlen ganz und müssen dringend ersetzt werden.“ Es fehlten Nationalparkwächter, die die Besucher umfassend informieren. Er forderte: „Das Land muss Geld in die Hand nehmen, um seinen Naturschatz zu erhalten.“
Das Nationalparkamt mahnte inzwischen zu besonderer Vorsicht bei Spaziergängen auf dem Kliff und am Strand direkt unterhalb der Steilküste. Erst im November 2010 waren nahe der aktuellen Abbruchstelle rund 10.000 Kubikmeter abgebrochen. Wanderwege wurden nach Angaben des Amtes allerdings nicht gesperrt. „Spaziergänge an der Kreideküste gehören zum normalen Lebensrisiko. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er sich diesem Risiko aussetzt“, sagte Weigelt.
Auf Rügen sind in den vergangenen Jahren immer wieder Küstenhänge ins Rutschen gekommen. Am spektakulärsten war der Absturz der Wissower Klinken im Februar 2005. Bei Lobbe im Süden der Insel wurde im selben Jahr eine 27-jährige Berlinerin von herabstürzenden Geröllmassen erschlagen. Auch bebaute Gebiete mit inzwischen stark versiegelten Flächenanteilen waren von Abbrüchen betroffen.
Erst vor eineinhalb Wochen rutschte in Sassnitz Erde von einem mit Häusern bebauten Hang auf die Strandpromenade. Ein Grundstück war nach Angaben des zuständigen Zweckverbandes nicht an die Regenentwässerung angeschlossen. In Lohme, im Nordteil der Insel, brach 2005 ein zwei Fußballfelder großes Stück aus der Küste. Ein Ferienheim an der Abbruchkante und musste abgerissen werden. Ein Drainagesystem leitet inzwischen Wasser aus dem bebauten Nachbarhang.
In Göhren, wo es bereits 2008 zu Abrutschungen kam, hatte ein Gutachten bereits vor einem Jahr Handlungsbedarf angemahnt. Als Grund für die Instabilität der Hänge machte Gutachter Richard Ladwein die Ansammlung von Oberflächen- und Untergrundwasser aus. „Diese Probleme sind menschengemacht“, sagte Kutscher. „Wenn das Wasser nicht mehr frei abfließen kann, sucht es sich seinen Weg.“