Am Atomkraftwerk Krümmel bei Geesthacht wächst die Angst der Menschen vor einem Atom-Unglück nach der Reaktor-Katastrophe in Japan.
Tespe. Ist das Auto betankt? Das war das Erste, woran Sabine Brosowski dachte, als sie den Hörer aufgelegt hatte. Und wie steht der Wind? Würde die Wolke, was auch immer sie in sich trug, über die Elbe ziehen und dann hierher nach Marschacht? Vom Dachbodenfenster aus konnte sie die Rauchsäule über dem Atomkraftwerk sehen. Vom Garten her hörte sie das Lachen ihrer Kinder. Im Radio kam eine kurze Warnung für Geesthacht, ein Brand, Rauch, bitte lassen Sie die Fenster geschlossen, so etwas.
+++Der Liveticker zur Atom-Katastrophe in Japan+++
28. Juni 2008. Ein Sommertag in der Elbmarsch. Auf der Terrasse des Fährhauses Tespe wird Apfelkuchen mit Schlagsahne serviert. Die Tische vibrieren, als gegenüber im Kraftwerk ein Gebäude detoniert. Auf dem Deich, der die Elbmarsch vor den Fluten schützen soll, stehen die Leute und sehen zu, wie das AKW brennt. Die Angst schnürt den Anwohnern die Kehle zu.
Karen Wohltorf ist auf dem Heimweg, als sie von dem Unfall erfährt. "Mein erster Gedanke war: Wo ist meine Tochter?" Familie Wohltorf lebt in Tespe. Ihr Haus steht direkt gegenüber von Krümmel. Vom Schlafzimmerfenster aus sieht man den großen grauen Reaktor, den Schlot, der momentan nicht dampft. Denn seit dem Vorfall steht der Reaktor still. Betreiber Vattenfall schaltete das Kraftwerk ab. "Derzeit befinden wir uns im Optimierungsprozess", sagt Barbara Meyer-Bukow. "Sicherheit hat bei uns größte Priorität." Ein Satz, den die Sprecherin seit Freitag immer wiederholt, während sich in Japan in den vom Erdbeben schwer getroffenen Kernkraftwerken die Lage weiter zuspitzt.
Sabine Brosowski lebt seit 13 Jahren mit der Angst vor einem Atomunfall - direkt vor ihrer Haustür. Sie ist 48 Jahre alt, Juristin, Mutter von drei Kindern. Ihr Haus in Marschacht liegt keine drei Kilometer vom Atommeiler Krümmel entfernt. "Wir stehen im Grunde vor den gleichen Problemen wie Japan", sagt sie. Es sei schließlich egal, ob ein Reaktor wegen technischer oder menschlicher Fehler versage. Fakt bleibe, dass dann Radioaktivität austreten könne. "Eine Katastrophe wie in Japan kann jederzeit auch hier passieren."
Dabei scheint alles so friedlich. Das Kernkraftwerk Krümmel liegt still am Ufer der Elbe. Aus der Nähe sieht der Atommeiler aus wie eine riesengroße Wellblechgarage mit Schornstein. Unter jedem Windrad ist mehr Lärm als an diesem Ort. Die Gefahr, die von einem Kernkraftwerk ausgeht, ist lautlos.
"Es ist immer ein ungutes Gefühl da", sagt Karen Wohltorf. Irgendwo in der Schublade hat die Versicherungskauffrau die Broschüre von Vattenfall versteckt. Mit Daten und Fakten über den Siedewasserreaktor, der bei vollem Betrieb eine Stadt wie Hamburg mit Strom versorgen kann. Sieben Seiten über die "Sicherheit kerntechnischer Anlagen", "Barrieren zur Rückhaltung radioaktiver Stoffe" und "Schutzmaßnahmen" im Katastrophenfall. In dem "Ratgeber" heißt es: "Im Falle eines kerntechnischen Unfalls verbleiben Sie im Haus, möglichst im Keller. Schließen Sie Fenster sowie Türen ... Müssen Sie ins Freie, so legen Sie bitte bei Rückkehr die Oberbekleidung, besonders Schuhe, vor dem Betreten des Hauses draußen ab und waschen Sie Kopf, Hände und andere unbedeckte Körperflächen."
Astrid Michelsen hat die schöne blaue Broschüre mit dem idyllischen Foto vom Kernkraftwerk gleich in den Müll geworfen. Das Cover mit der blauen Elbe, an deren Ufer eine weiße Parkbank steht, die den Besucher zum Verweilen mit Blick auf Krümmel einlädt, empfindet sie als Farce. "Wenn es zum GAU kommt, nützen uns die Maßnahmen auch nichts mehr", sagt die 49-Jährige, die eineinhalb Kilometer vom AKW entfernt zu Hause ist.
Wegziehen wollen die Menschen aus dem Alphabereich, den man auch Todeszone nennen könnte, dennoch nicht. "Wir leben mit der Bedrohung", sagen sie. "Wir haben uns arrangiert." Mit der Angst vor einem atomaren Unfall genauso wie mit der möglichen Gefahr, an Leukämie zu erkranken. Denn seit 1986 häufen sich die Fälle von Blutkrebs in der unmittelbaren Umgebung des Kraftwerks. Statistisch ist die Dichte daran erkrankter Kinder nirgendwo auf der Welt höher als hier in der Elbmarsch, wo die Wiesen weiter als das Auge reichen. 19 leukämiekranke Kinder und Jugendliche. Vier Tote.
Es gibt eine Bürgerinitiative gegen Leukämieerkrankungen in der Elbmarsch. Und es gibt Mütter wie Sabine Brosowski, die jedes Mal, wenn es den Kindern schlecht geht, beim Arzt auf eine Blutuntersuchung drängt. Wegziehen will sie nicht. Vor vier Wochen hat sich die Juristin zur Vorsitzenden der Bürgerinitiative wählen lassen. "Ich kann ja nicht einfach abhauen."
Am späten Nachmittag schaltet Frau Brosowski das Radio ein. Die Nachrichten melden, dass die Bundesregierung darüber nachdenkt, die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zurücknehmen. Damit wird das Aus für Krümmel wahrscheinlicher.
Am Haupttor des japanischen Kraftwerks Fukushima 1 steigt die Strahlung am Abend mit 3100 Mikrosievert auf das Doppelte des zuvor gemessenen Maximums. Im Reaktorblock 2 könnte die Kernschmelze bereits begonnen haben.