Anwalt Carsten Ernst geht davon aus, dass es noch zu weiteren Enthüllungen über den Missbrauch unter Jungen in der Sylter Kurklinik kommt.

Westerland/Bielefeld. Dem Vorwurf sexuellen Missbrauchs unter Kindern in einer Sylter Kurklinik geht die Flensburger Staatsanwaltschaft nach. „Es ist eine Strafanzeige der Mutter eines Kindes eingegangen“, sagte Oberstaatsanwältin Ulrike Stahlmann-Liebelt am Dienstag. „Wir überprüfen, ob es einen strafrechtlich relevanten Vorfall gegeben hat.“

Nach Angaben des Anwalts Carsten Ernst, der eines der Opfer vertritt, sollen bis zu zwölf Kinder misshandelt worden sein. Die „Bild“-Zeitung hatte eine Mutter aus dem Raum Bielefeld mit der Aussage zitiert, ihr Sohn sei von einem anderen Jungen unter Schlägen zu Zungenküssen und Oralverkehr gezwungen worden. Die Frau habe Strafanzeige erstattet. Dem Bericht zufolge hatten mehrere Jungen andere mit Gewalt zu sexuellen Handlungen gezwungen.

Nach Angaben des Klinikbetreibers DAK gab es hingegen keine sexuelle Gewalt. „Es hat in einer Gruppe mit 16 Kindern sexuelle Handlungen gegeben. Medienberichte über angebliche Vergewaltigungen weisen wir aber entschieden zurück“, sagte DAK-Sprecher Frank Meiners. Er sprach von „erweiterten Doktorspielen“ auf freiwilliger Basis. Daran hätten sich in einer Wohngruppe 14 von 16 Jungen im Alter von 9 bis 13 Jahren beteiligt. Es sei das erste Mal, das sich derartige Vorfälle in der seit den 70-er Jahren bestehenden Klinik ereignet hätten.

Rechtsanwalt Ernst aus Bielefeld sagte, im Juli und August seien während eines sechswöchigen Klinikaufenthaltes bis zu zwölf Kinder missbraucht worden. „Ich glaube, dass wir erst am Beginn der ganzen Geschichte stehen.“

Therapeut: Sexuelle Übergriffe unter Kindern nehmen zu

Mit Unverständnis reagierte der Anwalt auf die DAK-Stellungnahme. „Da wird nun alles kleingeredet. Aber wer einen Analverkehr als erweitertes Doktorspiel betitelt, der hat den Sinn für die Realität verloren.“ Nach Angaben des Anwalts soll es sowohl zu Oral- als auch Analverkehr gekommen sein. Ernst sagte, er habe am Dienstag mehrere Anrufe von Müttern erhalten, die in diesem Fall aussagen wollten. „Auf die Stellungnahme der DAK haben sie mit Unverständnis reagiert. Sie waren verärgert.“ „Jeder war Täter und Opfer zugleich“, sagte Meiners. „Sexuelle Gewalt hat es nach unserer Kenntnis nicht gegeben.“ Anstifter seien drei Jungen im Alter von 9, 11 und 12 Jahren gewesen. Sie wurden dem Sprecher zufolge nach Bekanntwerden der Vorfälle, die in den Ruhezeiten geschahen, sofort von der Gruppe getrennt und dann nach Hause geschickt. Keines der Kinder sei strafmündig. Die Jungen waren im Juli auf die Nordsee-Insel gekommen.

Das „Haus Quickborn“ steht in Westerland ganz in Strandnähe und ist auf Abspeck-Kuren spezialisiert. Vier Gruppen von je 16 Kindern können dort aufgenommen werden. Sie schlafen in Vier-Bett-Zimmern. In einer Jungen-Gruppe kam es dann zu den Vorfällen, denen jetzt die Staatsanwaltschaft nachgeht. Am 6. August offenbarten sich abends zum ersten Mal zwei Jungen einem Betreuer, wie DAK-Sprecher Meiners schilderte. Sofort sei die Klinikleitung informiert worden. Die drei „Rädelsführer“ seien in die Krankenabteilung verlegt und am nächsten Tag heimgeschickt worden. Die Kriminalpolizei wurde eingeschaltet, ein Beamter befragte am Tag darauf in der Klinik ein Kind.

Die „erweiterten Doktorspiele“ sind dem DAK-Sprecher zufolge in der Gruppe häufiger vorgekommen. Er wolle die Vorfälle nicht bagatellisieren. Doktorspiele seien in dem Alter grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Er könne sich nicht vorstellen, dass es bei Neun- oder Elfjährigen zu „wirklichem Geschlechtsverkehr“ gekommen sei. Den Eltern der betroffenen Jungen wurde laut DAK angeboten, ihre Kinder abzuholen. Das taten nur die Eltern eines Kindes, nachdem sie es – laut DAK ohne Befund – in einer Klinik auf Verletzungen untersuchen ließen.

+++Aufklärung des Missbrauchs auf Ameland schwierig+++

Die Sylter Vorfälle rückten auch die sexuellen Missbrauchsfälle auf der Nordseeinsel Ameland wieder in Erinnerung. Die Ermittlungen dazu gestalten sich schwieriger als zunächst vermutet. Sowohl die potenziellen Täter als auch Opfer werden nach wie vor vernommen, sagte der Sprecher der Osnabrücker Staatsanwaltschaft, Alexander Retemeyer, am Dienstag. Viele Details und Widersprüche in den bisherigen Aussagen seien noch nicht geklärt.

Anfang Juli war es auf der niederländischen Insel Ameland bei einer Ferienfreizeit des Stadtsportbundes Osnabrück in einer Jugendgruppe zu Quälereien und sexuellem Missbrauch gekommen. Die Polizei geht von acht Opfern und =zehn Tätern aus, wobei zwei Jugendliche zugleich Täter und Opfer sein sollen.