New Orleans. Elf Tote und ein Ölteppich von der Größe Jamaikas: Die Explosion der BP-Bohrinsel „Deepwater Horizon“ war beispiellos.
Der Tag beginnt für Al Sunseri mitten in der Nacht. Auf den Gehwegen lungern noch ein paar Trunkenbolde herum, als er gegen 3.30 Uhr in seinem Austernbetrieb in New Orleans das Licht anknipst. Im Internet will er Restaurants auf die Schliche kommen, die ihre Austern noch mit seinem Namen bewerben, aber längst nicht mehr Kunde sind. Der Wettbewerb um die Salzwasser-Delikatesse ist hart geworden – und wer in diesem Business etwas erreichen will, muss früh aufstehen.
Noch vor ein paar Jahren herrschte bei der „P&J Oyster Company“ schon frühmorgens Hochbetrieb: Kühltrucks rollten vor die Verladezone in der Toulouse Street, säckeweise kippten Mitarbeiter frisch gefangene Austern zur Weiterverarbeitung auf lange Stahltische. 15 oder 16 „shuckers“ verarbeiteten den Fang mit schnellen Handgriffen, um sie pünktlich ab 11 Uhr an die feinsten Restaurants der Stadt zu liefern – oder per Flugzeug in andere Teile des Landes. Heute steht in der Halle ein einziger Mann mit Schürze und Gummihandschuh und knackt schweigend ein Häufchen der kalten, grüngrauen Muscheln. Sunseri ist in seinem Büro derweil tief im braunen Ledersofa versunken und erzählt von dem Tag, der seinen seit fünf Generationen arbeitenden Familienbetrieb kräftig aus der Bahn werfen sollte: Die Explosion auf der BP-Bohrinsel „Deepwater Horizon“ am 20. April 2010.
36 Stunden brannte die Plattform „Deepwater Horizon“, bevor sie versank
Kilometerweit waren in jener Nacht die Flammen zu sehen, als sich auf der schwimmenden Bohrplattform Gas entzündete und nach einer Explosion einen Großbrand auslöste. Für die 126 Mitarbeiter des britischen Ölkonzerns BP, der Schweizer Bohrfirma Transocean und einiger anderer Unternehmen begann ein Kampf ums Überleben. Das Feuer war so gewaltig, dass Spezialisten aus Holland und dem mehr als 600 Kilometer entfernten Houston in Texas gerufen wurden, um den beispiellosen Brand auf hoher See mit Spezialausrüstung zu bezwingen.
Sie kamen zu spät. 36 Stunden brannte „Deepwater Horizon“, ehe sich die Metallkonstruktion unter der immensen Hitze verbog, ehe Kräne ins Wasser stürzten und ganze Decks kollabierten. Knarzend und krachend schlug der Stahlkoloss mit Explosionen ein letztes Mal um sich, ehe er im brennenden Meer versank. Die Körper der elf Vermissten wurden nie gefunden, und ihr Tod wurde zum tragischen Vorboten dessen, was sich als schwerste Ölkatastrophe in der Geschichte der USA herausstellen sollte.
Wie Schokoladensirup habe der tiefschwarze Schlick an der Hand geklebt, wenn man sie vom Boot aus ins Wasser tauchte, erinnert sich Dave Marino. Er bringt Hobbyangler raus auf die Barataria-Bucht, um den in Louisiana begehrten Roten Trommler und auch andere Fische zu fangen. Was in den Wochen darauf folgte, waren Bilder verschmierter Vögel und Fische, ein Ölteppich von der Größe Jamaikas und 1000 Kilometer verschmutzte Küste.
Für Al Sunseris Unternehmen ist das Ausmaß der Katastrophe fünf Jahre später noch nicht absehbar. „Ohne Vermögen hätten wir das Geschäft aufgeben müssen“, sagt er. Welche Zukunft haben die Nachfahren sizilianischer Einwanderer, wenn sie fast der gesamten Belegschaft kündigen mussten und heute etwa ein Drittel der Menge von 2010 verkaufen? Wenn sie mit einem Preisanstieg von 300 Prozent kämpfen? Und wenn selbst Edelrestaurants dem Traditionsbetrieb deshalb den Rücken kehren?
Unten am Hafen von Pointe à la Hache geht es den Fischern nicht anders. „Ich bin 2010 ausgestiegen. Mein Bruder und ich waren bankrott“, sagt Mike Taylor Junior. Heute helfen die beiden ihrem Vater, rund 500 Kilogramm Blaukrabben von zwei kleinen Booten auf einen Truck zu laden. Ein Anwalt habe ihm geraten, keine Einigung über Schadensersatz von BP zu unterschreiben, sagt Vater Mike Taylor. „Aber wenn man kurz davor steht, alles zu verlieren, muss man einfach unterschreiben.“ Die Entschädigungszahlung von 25.000 Dollar bewahrte ihn damals davor, sein Haus verkaufen zu müssen – heute fürchtet er erneut, es nicht länger halten zu können.
Wie viel Rohöl tatsächlich in den Golf von Mexiko sprudelte, darüber streiten sich BP und die amerikanische Regierung bis heute. 3,19 Millionen Barrel – mehr als 380 Millionen Liter – waren es dem letzten Richterbeschluss zufolge, also mehr als vom Konzern angegeben und weniger als von der Regierung geschätzt. Bis die Folgen der Ölpest für Umwelt, Tourismus und Fischerei bekannt sind, dürften noch Jahre vergehen, und auch der letzte Gerichtsentscheid steht noch aus.
Eine Stahlglocke über der Quelle stoppte nach 87 Tagen den Ölausstrom
Fest steht, dass die Schließung der Quelle in 1500 Metern Tiefe selbst Spitzeningenieuren monatelang Kopfzerbrechen bereitete: Erst nach vier gescheiterten Plänen und 87 Tagen, in denen BP zunehmend verzweifelt wirkte, konnte schließlich eine Stahlglocke über die Quelle gestülpt und der Strom aus dem Ölfeld „Mississippi Canyon 252“ gestoppt werden. Zuvor hatten die Experten unter anderem Golf- und Tennisbälle mit allerlei Plastikschrott und Spezialschlamm in das Leck gepumpt – vergeblich. Der Strom aus der Quelle war einfach zu stark.
Verschlimmert wurde das PR-Desaster durch den später zurückgetretenen BP-Chef Tony Hayward, der mit immer neuen fragwürdigen Aussagen herumpolterte. „Womit zum Teufel haben wir das verdient?“, soll er zu BP-Vorständen kurz nach dem Unfall gesagt haben. Dann erklärte er, dass der Golf von Mexiko im Verhältnis zum austretenden Öl und den rund sieben Millionen Litern Dispergiermittel unglaublich groß sei und die Auswirkungen deshalb „sehr, sehr gering“. Ende Mai 2010 sagte er schließlich: „Ich will mein Leben zurück.“ Präsident Barack Obama gestand öffentlich ein, dass er Hayward längst gefeuert hätte.
In immer neuen Berichten kämpfen Regierung, Forscher, Umweltschützer, Wirtschaftsverbände und der britische Konzern um die Deutungshoheit dessen, was sich seit dem Unfall im Golf von Mexiko wirklich abgespielt hat. „Die Umwelt am Golf zeigt starke Zeichen von Erholung“, teilte Laura Folse, BP-Chefin für Umweltsanierung, Mitte März mit. Der Golf kehre zu den Bedingungen vor der Ölpest zurück, heißt es im Fünfjahresbericht.
Die Antwort kam postwendend. „Es ist unangemessen und voreilig von BP, Schlussfolgerungen über die Folgen der Verschmutzung zu ziehen, bevor die Beurteilung abgeschlossen ist“, antwortete der Rat der Umweltbehörden NOAA und EPA, den Innen- und Landwirtschaftsministerien sowie den fünf betroffenen Bundesstaaten Alabama, Florida, Louisiana, Mississippi und Texas. Der Konzern wende die von Experten erhobenen Daten nicht nur falsch an und interpretiere diese auch falsch, sondern ignoriere Berichte von Forschern, die diese Einschätzung nicht teilten. Kaum war der BP-Bericht online, entdeckten Umweltschützer der National Wildlife Federation auf einer Insel rund 20 Arbeiter, die Reste einer mehr als elf Tonnen schweren Teerablagerung in Säcke schaufelten.
Teerklumpen würde man „noch ein paar Jahre sehen“, so eine Meeresbiologin
Alisha Renfro hat dort am Strand gerade wieder ein schwarzes Bällchen entdeckt. Wer mit ihr einen Spaziergang über die Insel East Grand Terre macht, muss nicht lang suchen: Alle paar Minuten bückt sich die Meeresbiologin und pult dunkle, klebrige Teer-Klümpchen aus dem Sand. Meist werden die „tar balls“ nach Stürmen an Land gespült. „Das werden wir noch ein paar Jahre sehen“, sagt Renfro.
Das Ökosystem im Mississippidelta und im Golf ist zu komplex, als dass man mit dem Finger nur auf BP zeigen könnte, um dem Konzern sämtliches Unheil in die Schuhe zu schieben. Forscher sind uneins, ob etwa der drastische Rückgang der Austernbestände seit 2010 vielleicht auch durch andere Faktoren beeinflusst werden könnte. Für viele Pflanzen- und Tierarten fehlt es schlicht an Daten aus der Zeit vor dem Unfall. Aber es gibt Hinweise auf die Schäden im System: 2014 wurde in ehemals verölten Gegenden etwa die vierfache Zahl toter Delfine gefunden – verglichen mit der Zeit vor der Ölpest. Der Große Tümmler leidet dort an Lungenkrankheiten, Zahnausfall und Nierenproblemen – Symptome also, die nach dem Kontakt mit Öl auftreten.
Und so bleibt der Fall „Deepwater Horizon“ auch fünf Jahre später eine Frage der Zukunft. Wie die der Kinder und Enkel der Fischer, die irgendwann entscheiden müssen, ob sie ihr Glück noch mit Austern, Krabben und Shrimps versuchen wollen. Sal Sunseri hat seinem 16-jährigen Sohn jedenfalls verboten, über den Sommer bei „P&J“ mit den Austern zu helfen. Der Junge soll Ingenieur werden.