Vermehrt werden Angst, Unruhe, psychosomatische Schmerzen festgestellt. UKE-Arzt Professor Schulte-Markwort sieht Ursache im Leistungsdruck.
Hamburg. Immer mehr Kinder leiden unter psychischen Problemen und dadurch bedingten körperlichen Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen. "Psychische Störungen, vor allem psychosomatische Symptome, haben bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren beständig zugenommen. Inzwischen ist jedes vierte Kind in Deutschland betroffen", sagte Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) , dem Abendblatt.
Die UKE-Ärzte hatten aktuelle Studien der Weltgesundheitsorganisation (HBSC-Studie) und des Berliner Robert-Koch-Institutes (KIGGS-Studie) ausgewertet. Bei rund 25 Prozent der Kinder wurden psychische Auffälligkeiten registriert. Die Mädchen und Jungen sind unruhig, überaktiv, unkonzentriert, können nicht lange still sitzen und lassen sich leicht ablenken. Oder sie neigen zu Wutanfällen, streiten sich viel mit anderen Kindern , stehlen zu Hause oder in der Schule, machen sich viele Sorgen, sind unglücklich und leiden unter Ängsten.
Besonders oft treten Probleme bei Kindern aus Familien mit geringerem Einkommen und wenig Bildung auf. In dieser Gruppe liegt der Anteil der Kinder mit Depressionen , Angst, Hyperaktivität oder Störungen des Sozialverhaltens bei 31,2 Prozent; er ist damit fast doppelt so hoch wie bei Kindern aus Familien mit einem hohen sozialen Status (16,6 Prozent).
In den Studien zeigte sich auch, dass psychosomatische Beschwerden wie Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen, Niedergeschlagenheit, Nervosität, Gereiztheit, Einschlafstörungen und Schwindel bei vielen Kindern keine Einmal-Phänomene sind. Der Anteil der Betroffenen, die mindestens zweimal in der Woche unter solchenBeschwerden leiden, stieg von 20 Prozent im Jahr 2002 auf 24 Prozent im Jahr 2006.
Die Ursachen für die psychischen Auffälligkeiten seien vielfältig, sagt Schulte-Markwort. Eine wichtige Rolle spielten die Eltern, die für ihre Kinder die bestmögliche Ausbildung wollen und sie dadurch bisweilen unter Druck setzen, außerdem die Verkürzung der Lernzeit in den Gymnasien auf acht Jahre und ein erhöhter Anspruch in der Schule, etwa durch Leistungsvergleiche wie die PISA-Studie. Inzwischen sei die Sensibilität aller Beteiligten für psychosomatische Störungen gestiegen, sodass sie heute eher erkannt und behandelt werden. Wenn dies nicht geschehe, könnten diese Probleme bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben.
"Mehr als 50 Prozent aller psychosomatischen Erkrankungen des Erwachsenenalters haben ihren Ursprung im Kindes- und Jugendalter", sagt der Kinderpsychiater, der auch die psychosomatische Ambulanz im Altonaer Kinderkrankenhaus leitet. Dort werden jetzt alle Kinder, die wegen psychosomatischer Beschwerden stationär aufgenommen werden müssen, auf einer pädiatrischen Station behandelt. "In diesem Jahr werden wir wahrscheinlich 500 Kinder stationär behandeln", sagt Schulte-Markwort. 2009 seien es knapp 200 gewesen.