Erklärung in Berlin. Institut für Risikobewertung: Auch andere Produkte als rohe Gurken, Tomaten oder Salat als Infektionsquelle möglich. Quelle könne in Deutschland oder im Ausland liegen.
Berlin. Die EHEC-Seuche dauert an und wird sich nach Einschätzung von Experten noch stärker ausbreiten und weitere Opfer fordern. "Es sind auch keine weiteren Todesfälle auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich“, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts, Reinhard Burger am Montag nach einem Spitzentreffen von Bundesregierung und Behörden in Berlin. Ein Abschwächen der Welle erwarte er nicht. "Es geht weiter.“
Eine zweite Studie habe erneut gezeigt, dass der Verzehr von rohem Gemüse in Norddeutschland ein erhöhtes Risiko berge, sagte der RKI-Chef. Entsprechende Warnungen blieben deshalb bestehen. "In dieser Woche wird sich zeigen, ob die Verzehrwarnung hilfreich war oder nicht.“ Grund sei die lange Zeit zwischen Infektion und Krankheitsausbruch.
Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) nannte als Ergebnis des Treffens, "dass leider weiter mit einer steigenden Fallzahl zu rechnen ist“. Es gebe Anzeichen, dass die Infektionsquelle weiter aktiv sei. Die Bürger seien zu vorsichtigem Verhalten aufgefordert.
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Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) betonte: "EHEC hat längst eine europäische Dimension.“ Sie betonte: „Wir stehen gemeinsam vor einer großen Herausforderung.“ Zum Schutz der Verbraucher sei es richtig gewesen, frühzeitig Verzehrhinweise zu geben.
Burger nannte die offiziell bestätigte Zahl von mittlerweile 353 Fällen der schweren Komplikation HUS. 60 Prozent davon entfielen auf Norddeutschland. Allein übers Wochenende habe es 80 neue Fälle gegeben. "Unverändert überwiegt der Anteil der Frauen mit 70 Prozent der Fälle.“ Die Seuche sei mittlerweile in fast allen Bundesländern angekommen.
Der Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), Andreas Hensel, sagte, es sei der größte bisher bekannte EHEC-Ausbruch in Deutschland. "Wir können bis zum heutigen Tage nicht sicher eine Infektionsquelle benennen.“ Auch andere Produkte als rohe Gurken, Tomaten oder Salat kämen in Betracht. Die Quelle könne in Deutschland oder im Ausland liegen. Es könne sein, dass Produkte erst beim weiteren Prozess vor der Ankunft in den Läden kontaminiert worden seien.
Allein Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) zeigte sich vorsichtig hoffnungsvoll. In der Hansestadt habe es zuletzt nur ein Viertel der Neufälle im Vergleich zu den vergangenen Tagen gegeben. „Es gibt eine gewisse Hoffnung.“ Burger wollte sich der Hoffnung auf ein Abschwellen nicht anschließen: Da es insgesamt kein nennenswertes Absinken der Fallzahlen gegeben habe, sei nicht davon auszugehen, dass die kontaminierten Lebensmittel verderblich waren und schon aufgegessen seien.
+++ Hoffnungsschimmer - aber keine Entwarnung +++
Mit Blick auf die Versorgung der EHEC-Patienten versicherte Bahr: „Wir haben eine angespannte Situation, aber sie ist zu bewältigen.“ Der Chef der Gesundheitsministerkonferenz, Stefan Grüttner (CDU) aus Hessen, sagte, kein Patient müsse sich Sorgen machen, dass die Versorgung nicht sichergestellt sei. Aigner kündigte an, Deutschland werde EHEC beim anstehenden EU-Agrarrat in Ungarn zur Sprache bringen.
Thüringens Agrarminister Jürgen Reinholz (CDU) klagte, niemand wisse, woher der Keim komme. Das öffne Spekulationen Tür und Tor. Die Märkte für die von den Warnungen betroffenen Produkte "sind am Zusammenbrechen“.
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Diese Befürchtung scheint sich für Europas Gemüsebauern bereits zu bestätigen. Sie bleiben wegen der Seuche auf ihrer Ware sitzen und müssen Einnahmeausfälle in Millionenhöhe hinnehmen. Besonders ernst ist die Lage in Spanien. Madrid will die EU um Hilfen für seine Bauern bitten und prüft auch Schadenersatzforderungen gegen Deutschland. Denn spanische Bauern sehen sich vorschnell als Quelle für den Erreger an den Pranger gestellt. Inzwischen hat Russland die Einfuhr von Gemüse aus Deutschland und Spanien verboten.
Spanien werde sein Anliegen auf einem informellen Treffen der EU-Agrarminister vorbringen, kündigte die spanische Ressortchefin Rosa Aguilar am Montag an. Auf dem EU-Ministertreffen in Debrecen in Ungarn werde sie ihre deutsche Amtskollegin Aigner zudem auffordern, bei der Suche nach den Ursprüngen der EHEC-Erkrankungen "nicht nach Spanien zu blicken“.
In Hamburg waren auf Salatgurken aus Spanien EHEC-Erreger festgestellt worden. Die spanischen Stellen argumentieren, dass die Gurken möglicherweise nicht bei der Produktion in Südspanien, sondern auf dem Transport oder bei der Verarbeitung kontaminiert worden seien. Bundesverbraucherministerin Aigner hatte am Wochenende die Warnung vor dem Verzehr von rohen Gurken, Tomaten und Salat bekräftigt.
Nun kündigte der spanische Agrarstaatssekretär Josep Puxeu an, dass Madrid Schadenersatzansprüche für Landwirte in Spanien prüfe. Er warf deutschen Behörden vor, auf der Grundlage von Spekulationen den Eindruck erweckt zu haben, dass die Infektionen ihren Ursprung in spanischen Gurken haben könnten.
Spanische Bauernverbände bezifferte die Verluste, die dem Gemüseanbau entstünden, auf sechs bis acht Millionen Euro am Tag. Die Madrider Gesundheitsministerin Leire Pajín betonte, es gebe bisher keine Beweise und auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gurken in Spanien mit EHEC-Erregern kontaminiert worden seien. "Wir haben von den deutschen Stellen immer wieder verlangt, dass sie keine Schuldzuweisungen vornehmen sollen, solange es keine gesicherten Erkenntnisse gibt“, sagte die Ministerin dem Fernsehsender Telecinco.
Die Zurückhaltung der deutschen Verbraucher bekommen auch die Landwirte in den Niederlanden zu spüren. Dort ist der Export von Gemüse ins Nachbarland nahezu zum Erliegen gekommen, wie der niederländische Minister für Landwirtschaft und Außenhandel, Henk Bleker, am Rande der informellen Tagung der EU-Agrarminister in Debrecen sagte.
Sein Land sei dringend daran interessiert, dass baldmöglichst geklärt werde, woher die potenziell tödliche Darminfektion EHEC komme, sagte Bleker. Zur Stunde gebe es keine Hinweise darauf, dass niederländisches Gemüse EHEC-Überträger sei. Normalerweise umfasse das Exportvolumen von niederländischem Gemüse nach Deutschland 10 Millionen Euro pro Woche, sagte der Minister.
Russland sah sich inzwischen zum Handeln gezwungen und hat die Einfuhr von Gemüse aus Deutschland und Spanien untersagt. "Wenn sich die Lage nicht ändert, werden wir die gesamte europäische Gemüseproduktion (hier) verbieten“, warnte Russlands oberster Amtsarzt Gennadi Onischtschenko nach Angaben der Agentur Interfax. Die Behörden in Moskau hatten die Bevölkerung bereits vor Tagen vor dem Verzehr von aus Deutschland eingeführtem Gemüse gewarnt. Das größte Land der Erde importiert wegen der mangelnden Eigenversorgung viele Lebensmittel.
Auch Niedersachsens Gemüsebauern klagen über kräftige Einbußen, weil sie wegen der EHEC-Seuche auf ihren Produkten sitzen bleiben. "Die Einbußen gehen in die zig-Millionen“, sagte der Präsident des niedersächsischen Landvolks, Werner Hilse. Das sei für die Landwirtschaft ähnlich schlimm wie bei der Dioxin-Krise Anfang des Jahres. (dpa/abendblatt.de)