Wohl sechs Tote und dramatisch mehr Kranke – EHEC hält die Deutschen immer stärker in Atem. Das Schlimmste für viele: Noch weiß keiner, woher der gefährliche Keim kommt.

Berlin. Vor gar nicht langer Zeit grassierte die Schweinegrippe in Deutschland, und das ganze Land war in Panik. Doch der Darmkeim EHEC scheint noch viel gefährlicher zu sein. Immer mehr Menschen in Deutschland werden Opfer des Bakteriums. Wohl mindestens sechs Tote, 60 neue schwere Fälle und insgesamt mehr als 1000 Verdachts- oder Krankheitsfälle – so lautet die düstere Zwischenbilanz. Der gefährliche Keim zieht mittlerweile auch eine Spur durch Europa. Jetzt wäre Klarheit über die Quelle(n) des Übels am Wichtigsten – doch die gibt es nicht. So gedeiht mit den gefürchteten Erregern auch der Zwist. Über die Grenzen hinweg ist ein heftiger Gurkenstreit entbrannt: Wie ist EHEC auf die vier Exemplare des Kürbisgewächses geraten ist, auf denen es bislang entdeckt wurde?

Spanische Gurken wurden als Quelle genannt - daraufhin war Erleichtung in Deutschland zu verspüren. Dann sind ja wenigstens Bauern und Händler hierzulande nicht mehr so stark im Fokus, meinten viele zuerst. Doch dann tat sich der Hersteller Pepino Bio Frunet hervor mit der Version, die Gurken seien während des Transports zum Hamburger Großmarkt heruntergefallen. Kontamination durch stürzende Gurken?

„Unmöglich“ kontert Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks. Könnten es Keime auf Hamburger Hallenboden gewesen sein? „Wir treiben hier keine Kuhherden durch die Hallen“, stellt der Vorstandschef der Verwaltungsgenossenschaft des Hamburger Großmarktes, Hans Joachim Conrad, fest.

Am Mittag lässt Agrarministerin Ilse Aigner (CSU) beteuern, wie gut man mit den spanischen Behörden zusammenarbeite. Wenig später wird bekannt: Spanien hat bei der EU und der Bundesregierung Beschwerde gegen die Berichte über einen Befall spanischer Gurken eingelegt. Vor der Presse hätte die EU informiert werden müssen. Das Aigner-Ministerium kontert: „Das zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat sich exakt an die EU-Vorgaben gehalten.“

Schon am Wochenende habe das Agrarministerium einen Krisenstab eingerichtet, teilt der Aigner-Sprecher noch mit. Zwei Tage zuvor hatten Aigner und Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) noch erklärt, für einen Krisenstab – von der SPD gefordert – gebe es keinen Anlass.

+++ Hier geht es zum umfassenden Dossier über den Erreger EHEC +++

Zumindest ein Seitenblick konzentriert sich unterdessen auf den Gurkenproduzenten Niederlande. Eine infizierte Gurke aus Holland soll in Hamburg aufgetaucht sein. Die zuständige niederländische Behörde weist die Berichte von sich. „Sie gehen möglicherweise darauf zurück, dass einer der betroffenen Gemüsebauern in Spanien, von wo wohl infizierte Gurken nach Deutschland geliefert wurden, Niederländer ist.“ Aber auch andere Länder sind immer stärker betroffen – so werden in Skandinavien 32 EHEC-Krankheitsfälle nachgewiesen. In Österreich ist EHEC mit Urlaubern aus Schleswig-Holstein angekommen.

Wer kann sich noch sicher fühlen? Die generelle Warnung vor Salat, Tomaten und Gurken in Norddeutschland gilt weiter. Auch wenn sich mittlerweile auch die Bundesregierung genötigt sieht, das Robert Koch-Institut dafür in Schutz zu nehmen. Landwirt Hermann Voges aus Ronnenberg bei Hannover mag für viele stehen, wenn er sagt: „Solange das Robert-Koch-Institut Pauschalmeldungen herausgibt, ist das für uns ein Totalausfall.“ Doch es gilt: „Der Schutz der Verbraucher vor Gefahren muss immer Vorrang haben vor wirtschaftlichen Interessen“, wie es der Aigner-Sprecher sagt.

Statistisch gesehen ist nach wie vor die Wahrscheinlichkeit einer EHEC-Infektion beim Einzelnen eher gering. Doch die Unsicherheit zerrt bei vielen an den Nerven. „Subjektiv nicht kontrollierbare Risiken werden als bedrohlicher eingeschätzt“, erklärt der Hamburger Ernährungspsychologe Joachim Westenhöfer. Doch sagt er auch: „Neue Risiken werden im Vergleich zu bekannten immer überbewertet.“

Interview mit Joachim Westenhöfer, Professor für Ernährungs- und Gesundheitspsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Wie wirken sich Ernährungskrisen wie im Fall EHEC auf das Verbraucherverhalten aus?

Westenhöfer: Ernährungsskandale und -krisen erzeugen immer dasselbe Muster: In dem Moment, in dem es eine große Medienberichterstattung gibt, wird kurzfristig der Konsum eingeschränkt oder eingestellt. Viele kriegen erst einmal Panik, und sofern dies einfach zu machen ist, verändern sie ihr Verhalten. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung bekommt aber auch gar nichts davon mit. Wenn es keine Neuigkeiten zum Thema mehr gibt, erlahmt das Interesse der Medien. Und in dem Moment kehren die Menschen zu ihren alten Essgewohnheiten zurück, insofern sie diese überhaupt geändert hatten.

Ist das ein rationales Verhalten?

Westenhöfer: Nicht immer. In der BSE-Krise wurde der Fleischverzehr erst massiv eingeschränkt, als er eigentlich schon wieder sicher war, weil die Kontrollen eingesetzt hatten.“

Warum halten uns Gesundheitskrisen so im Bann?

Westenhöfer: Verschiedene Faktoren beeinflussen die Risikowahrnehmung der Menschen. Zentral ist etwa das Gefühl, etwas nicht selbst im Griff zu haben. Subjektiv nicht kontrollierbare Risiken werden als bedrohlicher eingeschätzt – selbst kontrollierbare Risiken wie Trinken oder Rauchen als geringer. Neue Risiken werden im Vergleich zu bekannten immer überbewertet. So sterben jedes Jahr weit mehr Menschen an der saisonalen Grippe, dennoch hat die Schweinegrippe viele stärker beunruhigt. Viele sagen zudem: Entweder etwas ist ein Risiko oder es ist keines. Menschen sind schlecht in der Lage, die statistische Wahrscheinlichkeit eines Risikos einzuschätzen und das Verhalten nach solchen Prozentzahlen auszurichten. Verstärkt wird dies durch starke Bilder in den Medien.

Fett- und kalorienhaltige Speisen dominieren bei vielen ohnehin im Alltag – droht gesunde Rohkost angesichts der EHEC-Warnungen jetzt in Verruf zu geraten?

Westenhöfer: Tatsächlich sind ungünstige Ernährungsgewohnheiten auf Dauer gesundheitspolitisch viel bedeutsamer als das Verhalten in einer Krise. Aktuell kann man sich verschiedene Szenarien vorstellen. Die Aufklärung darüber, dass Obst und Gemüse gesund ist, war ziemlich nachhaltig – die meisten essen trotzdem nicht genug davon. Insofern könnte es sein, dass EHEC ein willkommener Anlass für manche ist, verstärkt auf Rohkost zu verzichten. Andere dürften bald wieder zu ihrem gewohnten Ernährungsverhalten zurückkehren.

Wie groß ist die Rolle des Wissens bei gesunder Ernährung?

Westenhöfer: Der Zusammenhang zwischen Ernährungswissen und Ernährungsverhalten liegt in der Größenordnung null. Vieles ist Gewohntheit, Gesichtspunkte wie Emotion oder sozialer Kontext spielen eine große Rolle.

(dpa/abendblatt.de)