Heute vor 200 Jahren wurde Otto von Bismarck geboren. Die Hanseaten verachteten ihn lange. Eine historische Spurensuche.
Dem Empfangskomitee, das am Bahnhof wartet, ist die ungeheure Spannung anzumerken. „Uns allen stockte förmlich der Atem bei dem Anblick des Gewaltigen“, notierte Antonie (Toni) Petersen, Tochter des Hamburger Bürgermeisters Carl Friedrich Petersen, später. Otto von Bismarck, Reichsgründer, Eiserner Kanzler, Ehrenbürger Hamburgs, Titan, Machtmensch, entsteigt am mittlerweile längst verschwundenen Berliner Bahnhof dem Sonderzug, um Hamburg einen Besuch abzustatten. Seine ersten Worte beim Verlassen des Abteils: „ Ich muss nur erst festen Fuß fassen.“ Das kann als Metapher verstanden werden, denn Bismarck, der heute vor 200 Jahren geboren wurde, betritt – so rechnete es der „Hamburgische Correspondent“ seinen Lesern vor – die Stadt an diesem 3. Juni 1890 erstmals nach 26-jähriger (!) „Zwischenpause“. Bismarck, wie üblich in Kürassieruniform samt Helm, genießt die Ovationen Tausender Schaulustiger. Hüte und Taschentücher werden mit viel Hurrageschrei geschwenkt, patriotische Lieder angestimmt, sogar Tränen vergossen.
Als Diplomat alter Schule gibt er sich freundlich und leutselig, den ihm überreichten Rosenstrauß teilt er und überreichte die Hälfte Toni Petersen. Vor dem Essen in Petersens Flottbeker Haus steht eine Hafenrundfahrt auf dem Programm. Pikant: Der Fürst besteigt dieselbe Barkasse, die „Zollenführer II“, mit der bereits sein Intimfeind Wilhelm II. zuvor durch den Hafen gefahren worden war. Doch auch wenn die Menschen jubeln, Blumen werfen und manche versuchen, Bismarck die Hand zu küssen: Sein Verhältnis zu Hamburg und den Hamburgern war und ist durchaus zwiespältig.
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Die
Historikerin Waltraud Engelberg spricht von einer „Liebe auf den
zweiten Blick“ – und das ist eigentlich noch geschmeichelt.
Bismarck hatte der Stadt während seiner Regierungszeit einiges
abverlangt und zugemutet. „Die hätten mich am liebsten gehängt“,
befand er 1887 rückblickend. Als preußischer Ministerpräsident
hatte er 1866 im Krieg gegen Österreich Hamburg mit enormem Druck
an Preußens Seite gezwungen – die Hansestadt wäre lieber neutral
geblieben. Ein Jahr später wurde Hamburg, wiederum mit energischer „
Hilfe“ Bismarcks, Mitglied des Norddeutschen Bundes. Zwar hatte die
Bürgerschaft die neue Verfassung mit übergroßer Mehrheit gebilligt,
aber die Stadt verlor – zum Kummer vieler traditionsbewusster
Bürger – etliche Privilegien und altvertraute Einrichtungen.
Posthoheit und Autonomie der Handelsverträge verschwanden ebenso
wie das Bürgermilitär. In Hamburg zog preußisches Militär auf, auch
Altona und Wandsbek wurden zu Garnisonsstädten.
Die „Verpreußung“ der Stadt wurde mit gemischten Gefühlen gesehen, der mächtige Nachbar mehr gefürchtet als geschätzt. Die schwersten Auseinandersetzungen folgten, nachdem das junge Kaiserreich 1879 den Wandel vom Freihandel zum Schutzzoll vollzogen hatte. Hamburg blieb zunächst Freihafen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, was Bismarck zunehmend missbilligte. Um den Zollanschluss Hamburgs zu forcieren, initiierte der Reichskanzler den Beitritt der konkurrierenden Nachbarstadt Altona zum deutschen Zollgebiet – eine ungeheure Provokation.
Nach monatelangen Auseinandersetzungen trat auch Hamburg bei, allerdings wurde der Stadt, das war der ausgehandelte Kompromiss, der Freihafen als „ Zollausland“ zugebilligt. Der Bismarck von damals hatte nichts gemeinsam mit dem Rosenkavalier, der die Stadt 1890 besucht, nicht wenige Hamburger hassten ihn geradezu. Doch Großkaufleute wie Adolph Woermann, Johann Berenberg-Goßler und die Brüder Ohlendorff hatten früh die Zeichen der Zeit erkannt und Bismarcks Kurs energisch unterstützt. Sie begreifen, dass Hamburg beim „neuen Kurs“ , den das Reich ansteuert, eine Schlüsselrolle zukommt, auch und gerade dem Hafen.
Otto von Bismarck in Taten, Zitaten, zum Nachlesen
Innerhalb von weniger als zehn Jahren entstehen Freihafengebiet, Speicherstadt und moderne Hafenbecken. Hamburg wird groß – und reich. Nun kommt Bismarck wieder nach Hamburg – als Mittsiebziger, der von moderner Technik so gut wie nichts versteht und mit dem Leben in der Stadt nicht viel anfangen kann. Der junge Kaiser Wilhelm II. hat ihn entlassen, und der einstige Star der deutschen Politik hat sich grollend nach Friedrichsruh im Sachsenwald zurückgezogen. „Hamburg lebt vom Wasser“ ist alles, was er beim Anblick des riesigen, für ihn völlig neuen Hafens zu Toni Petersen bemerkt. Und als er kurz darauf den hydraulischen Betrieb am Sandtorkai besichtigt, gesteht er, dass das alles zwar sehr schön sei, ihm aber das technische Verständnis fehle.
Bezeichnender ist, dass Bismarck einen in der Nähe stehenden Arbeiter fragt, ob er denn auch streike und ihn ermahnt, dass dabei „nichts herauskomme“. Immer wieder nutzt Bismarck die Gelegenheit, die aus seiner Sicht verfehlte Politik seiner Nachfolger zu kritisieren. „ Ich habe erreicht, dass mir Vertrauen entgegengebracht worden ist, sogar von fremden Völkern“, äußert er gegenüber Carl Friedrich Petersen, und bei einem weiteren Besuch wird er noch deutlicher: „ Es stört mir den Schlaf, wenn ich denke, dass sie das Gebäude, an welchem ich gebaut (...), wieder abbröckeln, da kommt die Gedankenjagd des nachts.“
Bismarck, hinter dem 50 Jahre als ausgefuchster Diplomat und Vollblutpolitiker liegen, weiß seine Worte genau zu setzen. Mit Besuchern aus Hamburg plaudert er vor dem Tor in Friedrichsruh charmant, und Bürgermeister Versmann lässt er wissen, dass er sich am liebsten in Hamburg „naturalisieren“ lassen würde. Das tut Bismarck nicht, und er geht auch nie ins Theater oder den Zoologischen Garten. Stattdessen nutzt er bekanntlich die „Hamburger Nachrichten“ als Sprachrohr – und geht dabei keinem Konflikt mit dem verhassten Kaiser aus dem Weg. Übrigens: Dass der mehr als 1,90 Meter große Hüne eine Fistelstimme gehabt habe, wie immer wieder kolportiert wird, widerlegt mittlerweile die einzige existierende Tonbandaufnahme, die in der Otto von Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh verwahrt wird.
Allerdings notiert Toni Petersen, dass der Altkanzler bei einem Toast in ihrem Elternhaus recht schwach spricht: „Man hätte nun denken sollen, dass in diesem mächtigen Körper auch ein mächtiges Organ wohne, aber dem war nicht so, ja man hatte den Eindruck, als ob er mühsam und stockend die Worte aus der Tiefe seiner Brust hervorhole, und die Stimme hatte keinen metallischen Klang.“ In seinen Memoiren, den posthum erscheinenden „Gedanken und Erinnerungen“, wird Hamburg nur an vier Stellen erwähnt, und all die Bürgermeister und Wirtschaftskapitäne, die ihn einst unterstützt und ihm gehuldigt hatten, kommen überhaupt nicht vor.