Neue Dokumentation zeigt, wie Rivalität zwischen Wilhelm II. und Georg V. deutsch-englische Beziehungen beeinflusste.
London. Als das Erzherzogspaar von Österreich-Ungarn im Juni 1914 in Sarajevo unter den Kugeln des serbischen Nationalisten Gavrilo Princip starb, saßen auf fast allen übrigen Thronen in Europa Bluts- oder angeheiratete Verwandte der britischen Königin Victoria selig. Die drei bedeutendsten waren Cousins ersten Grades: Kaiser Wilhelm II., Victorias ältester Enkel und damals 55 Jahre alt; Georg V., der 48 Jahre alte König von Großbritannien und Irland; und der drei Jahre jüngere Zar Nikolaus II.
„Europas Großmutter“ hatte systematisch auf die kontinentweite Vernetzung hingearbeitet, denn nur so, meinte sie, könne Frieden und Fortbestand der Monarchien dauerhaft gesichert werden. Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Das Attentat von Sarajevo löste einen vierjährigen Krieg mit mehr als zehn Millionen Toten aus, schaffte drei Kaiserreiche ab und kostete die Zarenfamilie das Leben. In der TV-Doku „Royal Cousins at War“ (Krieg unter königlichen Cousins) kommt die BBC, die dem Ersten Weltkrieg bis 2018 mehr als 2500 Sendestunden widmet, zu dem brisanten Schluss: „Die drei Monarchen und ihr Verhältnis zueinander spielten eine weit größere Rolle beim Ausbruch des Krieges, als Historiker bisher geglaubt haben.“ Im Mittelpunkt des am Mittwoch beginnenden Zweiteilers von insgesamt 120 Minuten, der sich teilweise auf bisher unbekannte Aufzeichnungen stützt, steht die „Hassliebe“ zwischen Wilhelm und seiner nicht deutschen, vornehmlich englischen Verwandtschaft, die sich im Laufe der Zeit „auf England als Ganzes übertrug und seine Außenpolitik stark beeinflusste“. Das Saatkorn wurde bereits bei der Geburt gelegt. Queen Victorias gleichnamige Tochter wäre bei der Entbindung fast gestorben. Weil „Willy“ mit einem verkümmerten linken Arm und anderen Gebrechen zur Welt kam, entzog „Vicky“ dem Sohn ihre Liebe.
Das Kind wiederum verübelte der Mutter die Lieblosigkeit sowie die Torturen, die sie ihm auferlegte, um die Geburtsfehler auszugleichen. So entwickelt der junge Prinz eine fatale Kombination aus Ich-Bezogenheit und Paranoia, Minderwertigkeitskomplex, Verwundbarkeit und Überheblichkeit. Einen Vorgeschmack erlebten Europas Royals 1863 bei der Trauung des künftigen Briten-Königs Eduard VII. mit Prinzessin Alexandra von Dänemark auf Schloss Windsor. Wilhelm diente als Page im Schottenkostüm samt Sporran (Geldbeutel) und Dolch. Als ihn ein Bruder des Bräutigam in der Kapelle zur Stille mahnte, zückte der vierjährige Preußenknirps das Messer, drohte seinem Onkel und biss ihn in die Wade.
Wenige Jahre darauf brachten die ausländischen Angehörigen seinem Selbstgefühl einen weiteren Schlag bei. Während sich die englischen, schwedischen, spanischen, griechischen und russischen Familienzweige sommers in den Residenzen des dänischen Königspaares vergnügten, durfte Wilhelm wegen Bismarcks Schleswig-Holstein-Kriegen nicht einmal als Zaungast kiebitzen. In seiner Abwesenheit entspann sich eine enge Freundschaft zwischen dem nachmaligen Georg V. von England und dem späteren Zaren Nikolaus II. Selbst die oft nachsichtige Oma Victoria drohte, „Willy“ abblitzen zu lassen, als er sich 1887 ungeladen als Vertreter des deutschen Reiches zu ihrem goldenen Thronjubiläum ansagte. „Höchste Zeit, dass die Alte stirbt“, zürnte er. „Man kann England gar nicht genug hassen.“ Zur alljährlichen Regattawoche von Cowes, dem berühmteren Vorbild seiner Kieler Woche, durfte Wilhelm nur kommen, weil Lord Palmerston, der Premierminister, Victorias Veto mit dem Argument entkräftete: „Wir brauchen die Freundschaft mit Deutschland.“
Mit seinem protzigen Auftreten auf der Insel Wight machte sich „der Hunne“ noch unbeliebter. „Ich gehe jetzt mit Papa Vetter William an Bord der [kaiserlichen Yacht] ,Hohenzollern‘ besuchen“, schrieb der spätere König George an seine Frau. „Hoffentlich ist er nicht da.“ Edward VII., Georges mehrfach von Wilhelm bei Segelrennen geschlagener Vater, klagte: „Früher war mir die Regatta von Cowes ein angenehmer Urlaub. Aber seit der Kaiser hier das Kommando übernommen hat, ist sie ein einziges Ärgernis.“ Nach den Worten der BBC ist diese Äußerung „unglaublich interessant. Denn die Rivalität bringt die englisch-deutschen Beziehungen und das Verhältnis zwischen der englischen und der deutschen Hochseeflotte auf den Punkt. Es ist eine Art Prophezeiung dessen, was dann kommt.“
14 Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begegneten sich die drei Cousins zum letzten Mal, anlässlich der Hochzeit der Kaisertochter Viktoria Luise von Preußen und des Hannoveraner-Prinzen Ernst August III. im Berliner Schloss. Der Brautvater verbrachte die meiste Zeit damit, Versuche der beiden Spitzbartträger zu vereiteln, ein stilles Eckchen für ein Vier-Augen-Gespräch zu finden. Wie immer war Wilhelm überzeugt, die Cousins wollten gegen ihn intrigieren.