Vor zehn Jahren legte Peter Hartz den Bericht seiner Kommission vor. Im Abendblatt ziehen Teilnehmer von damals Bilanz.
Hamburg. Das Wort des Jahres geschaffen, das Unwort gleich dazu, ein neues Verb erfunden - man kann den Einfluss des Topmanagers Peter Hartz, 71, nicht hoch genug einschätzen. Morgen ist es zehn Jahre her, dass Hartz dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den Bericht seiner Kommission übergab, der in die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte eingegangen ist.
In jenen Augusttagen stieg die Arbeitslosigkeit, aber auch die Elbeflut - und damit die Chancen auf Schröders Wiederwahl am 22. September 2002. "Den Ergebnissen der Hartz-Kommission könnte ich heute wieder zustimmen", sagt Isolde Kunkel-Weber, Vorstandsmitglied bei Ver.di und damals eine von 15 Experten aus Gewerkschaften, Unternehmen, Verbänden, Politik. Aber: "Was als Hartz-Reform durchgesetzt wurde, ist nicht das, was die Kommission in sechs Monaten erarbeitet hat. Das ist eine Schröder-Reform."
Das findet auch Eggert Voscherau, allerdings mit etwas anderem Zungenschlag. Der Bruder des früheren Hamburger Bürgermeisters und jetzige Aufsichtsratschef des Chemieriesen BASF sagt: "Die Mitarbeit an den Hartz-Reformen war eine der wichtigsten politischen Aufgaben für mich. Es war eine einmalige Gelegenheit, den zu dieser Zeit erstarrten Arbeitsmarkt zu reformieren, wo die Arbeitslosigkeit ein unerträglich hohes Maß erreicht hatte."
+++ Neue Hartz-IV-Sätze sind verfassungsgemäß +++
Er habe gewusst, dass die Durchsetzung der Vorschläge schwierig sei. "Deshalb gilt meine Anerkennung auch Gerhard Schröder, der unsere Vorschläge gegen viele Widerstände umsetzte, auch um den Preis seiner eigenen politischen Laufbahn." Denn an Hartz zerbrachen die Sozialdemokraten, die Vorherrschaft der SPD in Nordrhein-Westfalen und letztlich im Herbst 2005 die Treue-Verbindungen von Kanzler Schröder zu seiner Partei.
Hartz legte Schröder das gemeinsam erarbeitete Konzept "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" vor: die Blaupause für ein Jobwunder. Von den Maßnahmen Hartz I bis IV waren das die wichtigsten: Die Regeln für Zeitarbeit wurden gelockert, Jobcenter geschaffen. Arbeitsagentur und Sozialamt sollten sich zusammen um Langzeitarbeitslose kümmern. "Positiv ist, dass die Bundesagentur für Arbeit zu einer modernen und schnellen Behörde umgebaut wurde", sagt Kunkel-Weber.
Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zusammengelegt zum Arbeitslosengeld II, später "Hartz IV" getauft. Der Begriff wurde 2004 Wort des Jahres. Schon 2002 war die "Ich-AG" das Unwort des Jahres der Deutschen Gesellschaft für Sprache. Es meint die Verwandlung eines Arbeitslosen in einen kleinen Selbstständigen, der mit staatlicher Förderung eine Geschäftsidee umsetzt. Andere Begriffe aus der Kommission schafften es auf vordere Plätze bei Wort und Unwort des Jahres: Ein-Euro-Job, Job-Floater und andere. Wenn kesse Jugendliche nach ihren Berufsaussichten gefragt werden, antworten sie oft: "Ich will einfach nur hartzen."
Zu den Hartz-Empfehlungen zählten auch die Minijobs, die Beschäftigung im Niedriglohnbereich. Hunderttausende protestierten gegen den Umbau auf dem Arbeitsmarkt. Das Credo von Peter Hartz war: Wenn alle Experten, Gewerkschaften und Unternehmen an einem Strang ziehen, kann man die Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren halbieren.
Gewerkschafterin Kunkel-Weber sagt heute: "Ich höre noch Schröder sagen: Die Arbeit der Hartz-Kommission wird eins zu eins umgesetzt. Das, was dann die Roland Kochs und Wolfgang Clements dieser Welt daraus gemacht haben in Bundestag und Bundesrat, das war unsozial. Deshalb bleibt bei mir Bitterkeit." Wirtschaftsmann Voscherau sagt: "Durch die Hartz-Reformen wurde die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt, und neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Unsere Unternehmen sind wettbewerbsfähiger geworden, was sich gerade in der jüngsten Wirtschaftskrise gezeigt hat." Die Reformen dürften nicht zurückgedreht werden. "Gerade in der heutigen Staatsschuldenkrise können die Hartz-Reformen als Vorbild auch für andere in Europa dienen."
Kunkel-Weber hält dagegen: "Ich teile nicht die Einschätzung, dass der Umbau auf dem deutschen Arbeitsmarkt vorbildlich ist. Die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse ist gestiegen. Das wird uns noch auf die Füße fallen. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, sonst trudeln die Löhne nach unten weg. Es ist bemerkenswert, dass derzeit in einer konservativen Bundesregierung so positiv darüber nachgedacht wird."
Hartz hat nebenbei eine wahre Armutsindustrie geschaffen, mit einer aufgeblähten Fortbildungsbranche, Vermietern, die Bedürftige ködern und bei der Quadratmeterzahl betrügen, mit Hartz-IV-Kaufhäusern und einer Armee von Rechtsanwälten, die Hartz-IV-Bescheide vor den Sozialgerichten zerpflücken. Hunderttausende Klagen sind bei den Sozialgerichten verhandelt worden. Manchmal ging es um Zahlendreher bei Berechnungen, bisweilen um Betrug. Hartz-Kläger stritten um die Größe ihrer Wohnung, was sie hinzuverdienen dürfen, ob Lottogewinn oder Erbschaft angerechnet werden, wie groß das Auto sein darf und ob der Staat die juristische Fachliteratur bezahlt, die man braucht, um sich gegen den Hartz-Bescheid zu wehren.
Deutschlands oberste Richter erklärten im Februar 2010 den Regelsatz für Hartz IV (heute 374 Euro im Monat) für verfassungswidrig. Ver.di-Vorstand Kunkel-Weber sagt: "Es ist tragisch, dass erst das Bundesverfassungsgericht feststellen musste, dass die Hartz-IV-Sätze grundgesetzwidrig sind." Der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle sah die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein."
Hartz hat zehn Jahre nach dem Kommissionsbericht wenig von der rhetorischen Schlagkraft verloren. BASF-Aufsichtsratschef Voscherau bringt den Grundgedanken auf den Punkt: "Fordern und Fördern muss das Leitmotiv einer modernen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bleiben."